Mit neun Jahren Verspätung

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Wagners Tristan und Isolde 2013 in Wien: Mit neun Jahren Verspätung hat Orfeo den Mitschnitt aus der Staatsoper herausgegeben (C210123). Warum erst jetzt? Das Booklet gibt darüber keinen Aufschluss. Es finden sich lediglich ein allgemeiner Text über die hinlänglich bekannte Entstehungsgeschichte des Werkes und biographische Angaben zu den Mitwirkenden. Sonst nichts. Wer es etwas genauer wissen will, muss sich selbst auf die Suche machen. Das Netz ist auskunftsfreudiger denn je. Darauf spekulieren offenkundig auch die Herausgeber. Am 13. Juni 2013 hatte die vom Österreichischen Rundfunk zeitversetzt übertragene Neuinszenierung Premiere. Sie wurde vom schottischen Opernregisseur Davis McVicar besorgt, der einen vergleichsweise traditionellen Stil pflegt. Die Optik lässt kaum Zweifel daran zu, um welches Werk es sich handelt. Das ist inzwischen nicht immer so. Anhand von aussagekräftigen Szenenfotos auf dem Cover und im Innern der Beilage sowie Bildern von Solisten in ihren Kostümen lässt sich ein konkreter Eindruck gewinnen, was sich auf der Bühne abgespielt hat – auch wenn es sich bei der Neuerscheinung lediglich um die Tonspur handelt. Warum der Regisseur und sein Ausstatter Robert Jones nicht erwähnt werden, bleibt das Geheimnis von Orfeo. In diesem Fall wäre es notwendig und fair gewesen, auch sie zu nennen. Schließlich hört das Auge mit. Bis zum 26. Juni folgten drei Aufführungen in der Premierenbesetzung. Da Orfeo als Aufnahmezeitraum den Juni 2013 angibt, ist davon auszugehen, dass die CD-Ausgabe aus unterschiedlichen Aufführungen zusammengeschnitten wurde.

Die Aufmerksamkeit des Publikums richtete sich damals auf Nina Stemme, die mit fünfzig Jahren als Isolde am Haus debütierte. Die Schwedin war in Wien keine Unbekannte, hatte bereits 2004 die Sieglinde gegeben, von 2008 an die Brünnhilde im Siegfried. 2003 war sie in Glyndebourne erstmals als Isolde in Erscheinung getreten. Damals hatte sie „bereits vierzehn Bühnenjahre hinter sich, zunächst mit Partien wie Cherubino, Pamina, Figaro-Gräfin, Agathe und Eva“, wird im Booklet aufgezählt. Dann seien Mimi, Butterfly, Manon Lescaut, Tosca, Tannhäuser-Elisabeth, Marschallin und Senta gefolgt. Für die Isolde ist diese Spannbreite nicht die schlechteste Voraussetzung. Viele Kolleginnen pflegten ein ähnliches Repertoire bis sie – wie Nina Stemme – fast nur noch das hochdramatische Fach sangen. Schon 2013 deutete sich an, dass dafür auch ein Tribut fällig sein wird. Die Stimme reicht derart in die Tiefe, dass die Anbindung an höre  Registern nicht immer perfekt gelingt. Nicht selten werden Töne geschleift, was auf Kosten feiner Nuancen geht. Ihre stimmlichen Reserven aber sind unendlich und auf das gesamte Werk eindrucksvoll verteilt. Deshalb kommt sie beim wagnerversessenen Publikum so gut an und wird weltweit gefeiert. Im kräftezehrenden ersten Aufzug schont sie sich nicht für das, was noch kommt. Extreme Spitzentöne wirken etwas nachgesetzt. In diesen Momenten erinnert sie mich mehr an ihre berühmte Vorgängerin Birgit Nilsson als bei einem allgemeinen Stimmenvergleich. Die 2005 verstorbene Nilsson dürfte den Aufstieg ihrer jungen Landsmännin noch genau verfolgt haben. 2018 bekam Nina Stemme den mit einer Million US-Dollar dotierten Birgt-Nilsson-Preis zugesprochen, der von dieser Sängerin gestiftet wurde und als eine Art Musik-Nobelpreis gilt.

Doch nun von Tristan! Peter Seiffert hatte die Rolle schon in der Wiener Vorgängerinszenierung von Günter Krämer gesungen. Er gilt als einer der versiertesten Tristan-Interpreten und ist Wien eng verbunden seit er 1984 neben der Arabella seiner späteren Frau Lucia Popp der Matteo gewesen ist. An Tristan, den er sich hat hart erarbeiten müssen, war nicht zu denken. In einem Interview mit dem Wiener Standard anlässlich der Premiere 2013 schilderte der Tenor diese Herausforderung. Als er angefangen habe, den Tristan zu studieren sei er erst einmal in Panik verfallen. „Für mich war es endlos, unerreichbar, unermesslich – und erschien mir um eine Nummer zu groß“, so Seiffert. Diese Demut vor der Rolle hat er sich zu erhalten gewusst. Er stellt das Gegenteil eines stimmlichen Draufgängers dar. Seiffert singt vom Wort her, will genau verstanden werden und lässt bis zum Schluss den Lyriker durchscheinen, den gigantischen Anforderungen des dritten Aufzuges zum Trotz.

Janina Baechle ist eine Brangäne mit hochdramatischem Potenzial, die sich nicht vor stimmlichen Brüchen und Ausflügen in den Sprechgesang scheut, wenn sie denn dem Ausdruck dient. Im Wachgesang findet sie zu Ruhe und Ausgeglichenheit. Der wagnererfahrene Däne Stephen Milling singt den Marke mit trefflicher Diktionen. Fernab aller Milde formt er seine Klage mit kernigem Bass zu einem packenden Menschenschicksal. Jochen Schmeckenbecher gestaltet den Kurwenal mit Hingabe. Deshalb stört es letztlich nicht, dass sein Vortrag etwas unstet ausfällt. Dirigent Franz Welser-Möst legt großen Wert auf die meisterhafte Ausschmückung von Details. Seine Stunde schlägt vor allem mit den Vorspielen und den sinfonischen Passagen. So wird er seinen Sängern ein zuverlässiger Partner. Er deckt sie niemals zu und nimmt das Orchester – wann immer es geboten – zurück. Insgesamt lässt der Klang des Mitschnitts nichts zu wünschen übrig. Rüdiger Winter