„Leichte und gut verkäufliche Klassik…“

 

Die ersten Dresdner Schallplattenaufnahmen von Karl Böhm sind wieder auf dem Markt. Sie wurden zwischen 1935 und 1939 von der Electrola produziert. Bei Profil Edition Günter Hänssler sind sie in einem aus zwei CDs bestehenden Album zusammengefasst (PH18035). Bei der Ausstattung wurde nicht gespart. Hänssler verwendet auf seine Staatskappelle-Dresden-Edition, die mit der Neuerscheinung bereits bei Vol. 43 angekommen ist, höchste Sorgfalt und viel ästhetische Phantasie. Deutsch und englisch ist das Booklet gehalten, das alle einzelnen Titel auch mit den ursprünglichen Katalog- und Matrizennummern versieht. Sammler legen auf solche Angaben großen Wert. Sie sind ihnen mitunter wichtiger als interpretatorische Details. Unverkennbar ist dies die Handschrift von Steffen Lieberwirth, des Projektleiters der Edition – ein Gemeinschaftswerk der Sächsischen Staatskapelle, des Mitteldeutschen Rundfunks und des Deutschen Rundfunkarchivs. Wer sich ein wenig auskennt, muss lange suchen, um ein ähnlich ambitioniertes Projekt ausfindig zu machen. Hänssler hat hier die Maßstäbe sehr hoch gesetzt und ist auch diesmal nicht darunter geblieben. Im Booklet wimmelt es nur so von Fotos und faksimilierten Anzeigen, mit denen die Platten einst in Zeitungen und Zeitschriften wortreich und überschwänglich beworben wurden. Das Repertoire zielte auf vielseitig interessierte Kunden, die sich die Platten für drei Mark leisten konnten. Für jeden Geschmack sollte etwas dabei sein, „leichte, gut verkäufliche Klassik“, wie Autor Jens-Uwe Völmecke anmerkt. In einem Bericht der Dresdener Nachrichten vom 1. Juni 1937 ist genau beschrieben, wie einige der Stücke in dem zum Studio hergerichteten Zuschauersaal der Semperoper eingefangen wurden. Auf diese Weise gelangte die Akustik dieses wenige Jahre später zerbombten Hauses mit auf die Rillen.

Zehn Ouvertüren und das Vorspiel zu Aida bilden einen Schwerpunkt für sich. Am Beginn steht die Fledermaus, auf die schon bald Mozart mit der Entführung aus dem Serail und Figaros Hochzeit folgt, dann Weber mit Freischütz und Oberon, Humperdinck mit Hänsel und Gretel, Smetana mit der Verkauften Braut. Emil Nicolaus von Reznicek ist mit der ohrwurmverdächtigen Ouvertüre seiner bekanntesten Oper Donna Diana vertreten, die 2003 in Kiel wieder auf die Bühne kam und als Mitschnitt von cpo verbreitet wurde. Dieses Label hat sich um Reznicek (1860 – 1945) sehr verdient gemacht und auch sinfonische Werke publiziert. In seiner Zeit war dieser Komponist sehr berühmt. Weil er zu seiner jüdischen Ehefrau stand, wurde es in der Nazizeit schließlich immer stiller um ihn. Bitte nicht wundern: In der Trackliste der zweiten CD erscheint die Nummer eins zweifach, weshalb alle folgenden Titel um eine Stelle nach hinten rutschen. Donna Diana ist also die Sechs in der Reihenfolge – und nicht die Fünf wie ausgedruckt. Beethoven setzt mit der Leonoren-Ouvertüre 3 und Egmont einen betont sinfonischen Akzent. Der Rest sind Intermezzi (Bajazzo, Cavalleria rusticana), Märsche (Faust von Berlioz und Schuberts orchestrierter erster der drei für Klavier zu vier Händen geschriebenen Militärmärsche D 733), zwei Ungarische Tänze von Brahms sowie von Lortzing der Holzschuhtanz aus Zar und Zimmermann und die Ballettmusik aus Undine sowie der Kaiserwalzer von Strauß. Das eingangs an Prokofjew erinnernde Rondo giocoso op. 4 des Österreichers Theodor Berger (1905 – bis 1992) ist eine Entdeckung. Nur eine Nummer ist vokalen Ursprungs – der so genannte Osterchor aus Cavalleria rusticana, in den die Sopranistin Christel Goltz mit leuchtendem Ton einstimmt. Diese Szene von 1938 gilt als die früheste Aufnahme dieser damals sechsundzwanzigjährigen Sängerin, was ausdrücklich vermerkt ist.

Es spricht für die Neuerscheinung, dass auch die historischen Hintergründe der Plattenproduktionen während des Nationalsozialismus beleuchtet werden. Es gilt also nicht nur der Kunst. Völmecke: „Im Laufe des Jahres 1937 entfernten alle in Deutschland aktiven Schallplattenfirmen die Aufnahmen mit jüdischen Künstlern – zu denen auch Leo Blech gehört – aus den Katalogen mit der Konsequenz, dass quasi über Nacht eine Riesenlücke im Repertoire entsteht, die schnellstens wieder aufgefüllt werden muss.“ Vor allem Blech hatte sich um das „kleinteilige musikalische Genre“ mit der Staatskapelle für die Platte gekümmert. Böhm, seit 1934 Generalmusikdirektor und Operndirektor in Dresden und den braunen Machthabern nahe stehend, sprang für Blech offenbar genauso bedenkenlos ein wie für seinen Amtsvorgänger Fritz Busch, der von den Nazis vertrieben worden war. Musikalisch agiert Böhm auf diesen Schelllacks glänzend. Für ihn scheint es in der Verantwortung als Dirigent keinen Unterschied zwischen Mozart und Lortzing zu geben. Das macht auch den Reiz der Platten-Sammlung aus, die zudem akustisch äußerst sorgfältig bearbeitet wurde. Es macht Freude zuzuhören. Rüdiger Winter