Angeblich ist die CD als (physisches) Medium tot. Doch auf der anderen Seite wird mehr oder minder munter eingespielt und vor allem wiederveröffentlicht. Und da scheinen Gesamteditionen doch noch ein (lukratives) Geschäft zu sein. Jedenfalls vergeht kaum ein Monat, in dem nicht wieder eine umfangreiche Box mit CDs auf den Markt geworfen wird und zu annehmbaren Preisen um die Gunst der Diskophilen buhlt.
Nun ist also, ohne besonderen Anlass Richard Strauss an der Reihe. Dem Komponisten hätte das Unternehmen, in einer Box weniger oder gar nicht bekannte Werke aus seiner Feder zu versammeln, sicher gefallen – vor allem, wenn sich das Produkt gut verkaufen lässt. Strauss war nicht nur ein bedeutender Dirigent und Komponist, sondern bekanntlich auch ein gewiefter Geschäftsmann. Die Deutsche Grammophon will punkten mit einer 15 CD umfassenden Edition von Werken des „unbekannten Strauss“. Das ist ein hoher Anspruch aber zugleich auch Etikettenschwindel. Denn wie definiert sich „unbekannt“. Etliche der hier versammelten Kompositionen gibt es in mindestens einer Aufnahme längst auf dem Markt. Nur einige wenige mögen zu recht die Bezeichnung „unbekannt“ tragen. Eine „editorische Glanztat“, wie in einer Musikzeitschrift zu lesen war, ist das Unternehmen gewiß nicht. Dazu hätte denn auch mindestens eine editorische Notiz gehört, die begründet, warum dieses Werk ausgewählt wurde und jenes eben nicht.
Natürlich muss die DG ihr Produkt in höchsten Tönen loben: „Diese 15-CD-Edition mit selten eingespielten Werken von Richard Strauss bringt ausgesuchte Raritäten ans Licht und leistet einen unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis der großen Spätromantikers und Tondichters Strauss.“ Dabei wird fairerweise nicht verschwiegen, dass diese Aufnahmen vor Jahrzehnten bereits erschienen (bei Koch Classic). Seinerzeit mag es sich noch um Novitäten für den Tonträgermarkt gehandelt haben, mag das eine oder andere Werk dieser Sammlung noch nicht eingespielt wurden sein.
Zunächst werden „Frühe Orchesterwerke“ präsentiert (CD 1 + 2). Das sind leichte Orchesterstücke – von einer Schneiderpolka über Gavotte und Festmarsch bis zur längeren Concertouvertüre und einer Serenade in G-Dur – klassizistische, noch keineswegs unverwechselbare Frühwerke des Komponisten, hier musiziert von der legendären „Wilden Gung’l“ (Dirigent Jaroslav Opelka), einem der ältesten Münchner Amateurorchester, 1864 gegründet, in dem Strauss selbst in den 1880er-Jahren als Geiger mitspielte und das sein Vater Franz für einige Jahre leitete. In den Romanzen für Klarinette bzw. Cello und Orchester trifft der junge Komponist den richtigen Ton. Die Schauspielmusik zu „Romeo und Julia“ ist dagegen recht konventionell, die Musik zu „Lebende Bilder“ ist ein belangloses Gelegenheitswerk: die Huldigungsmusik zur Goldenen Hochzeit eines Fürstenpaares.
Die beiden frühen Symphonien von Strauss (CD 3) hört man mit Interesse als Wegmarken der Entwicklung des Komponisten. Die d-Moll-Symphonie von 1880 ist das Werk eines Sechzehnjährigen, der auf den Spuren von Weber, Schumann und Mendelssohn wandelt und das Orchester bereits sehr geschickt behandelt. 1882 folgte die Symphonie f-Moll, ähnlich in Stil und Charakter. Dann bog Strauss allerdings vom (erwartbaren) Weg ab, schrieb keine Symphonie mehr im klassischen Sinne und Gestus, sondern wandte sich in der Instrumentalmusik symphonischen Dichtungen zu, die freilich gelegentlich auch als verkappte Symphonien verstanden werden können.
Die Pianistin Anna Gourari widmet sich zwei „Klavierkonzerten für die linke Hand“, die gewiss auch Gelegenheitswerke für Klavier linke Hand und Orchester sind (CD 4). Beide entstanden für den österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein, der im 1. Weltkrieg den rechten Arm verloren hatte: Das „Parergon zur Sinfonia domestica“ ist eher symphonische Fantasie oder Dichtung, hat rhapsodische Züge und große Gesten. Der „Panathenäenzug“ ist eine symphonische Etüde in Form einer Passacaglia, stellenweise sehr etüdenhaft, nicht ohne Leerlauf. Da sind die drei Soloklavierwerke, die Stefan Vladar mit Gespür für Stil und Ton interpretiert (CD 5) doch interessanter: Fünf Klavierstücke mit Schumann-Nähe, eine klassisch-romantische Sonate in h-Moll sowie Stimmungsbilder in der Nachfolge von Mendelssohns „Liedern ohne Worte“.
Typische Sammelprogramme bieten zwei weitere CDs der Box: Die Fantasien und Fragmente (CD 6) stehen eigenartig frei im Raum, die Vor- und Zwischenspiele (CD 7) sind ein teils eindrucksvolles Potpourri unterschiedlicher Produkte – von den frühen Opern „Guntram“ und „Feuersnot“ bis zu „Arabella“, „Capriccio“ und „Die schweigsame Frau“. Da wirkt eine Zusammenstellung Rossinischer oder Verdischer Opernouvertüren doch allemal zündender.
Strauss hat verschiedentlich für das Tanztheater komponiert (CD 8 + 9). Die „Josefs Legende“ von 1914, „Handlung in einem Aufzug“, für Sergej Diaghilews berühmte Ballets Russes verfasst, war seine erste Ballettkomposition; mit ihr wollte er den Tanz erneuern. „Schlagobers“, sein zweites Ballett auf ein eigenes Sujet folgte 1919, kam aber erst 1924 zur Uraufführung. Den Kritikern, die dem Komponisten vorwarfen in einer Zeit der Wirtschaftskrise Szenen von Völlerei auf die Bühne zu bringen, hielt er entgegen: „Ich möchte Freude machen“. Demgegenüber sind die Ballettsuiten nach Couperin ein anderes Kaliber und Ausnahmefälle. Das Divertimento und die Tanzsuite zeigen, wie sich Strauss auf dem Wege des (Kammer-)Orchesterarrangements die Musik des 18. Jahrhunderts anverwandelt – mit Geschick und Geschmack, aber auch eindeutig im Stil seiner Zeit.
In der Sammlung fehlt es nicht an Raritäten und Kuriosem. Dass der Bayer Strauss sich auch auf den Wienerisch geprägten Walzer verstand, zeigte er vor allem in zwei Walzerfolgen aus dem „Rosenkavalier“, aber auch in den weniger bekannten beiden, der Stadt München gewidmeten Walzern (CD 10). Und dass man selbst die Aufschrift einer schwedischen Streichholzschachtel „vertonen“ kann, bewies Strauss in einem seiner a-cappella-Chöre (CD 15). Er wählte aber auch gehaltvollere Vorlagen, nämlich Texte von Schiller, Rückert, Hofmannsthal und schrieb auch einige geistliche Sätze.
Die Komödie mit Tanz nach Molière „Der Bürger als Edelmann“ (CD 11 + 12) ist zwar vollständig enthalten, aber zugleich eine Kuriosität: nämlich „adapted and narrated in English by Peter Ustinov“ – zu Deutsch: adaptiert und erzählt von dem fabelhaften Theatermann Ustinov. Doch so gut der seine Sache auch macht – das deutschsprachige Publikum dürfte das weniger ansprechen. Obendrein fehlt ein Textbuch, das den Text in deutscher Übersetzung enthalten müsste. Auch die Vokalpartien werden in Englisch gesungen. Was für eine Verwirrung: französisches Sujet, französische Musik, englische Sprech- und Gesangstexte, dazu die deutsche Musik eines Strauss. Da hätte dann doch die Suite genügt, die immer wieder im Konzertsaal zu hören ist.
Ein ähnlicher Befund gilt für „Des Esels Schatten“ (CD 13). Auch hier ist die Erzählsprache Englisch. Man schlittert unvorbereitet und uninformiert in die Fabel hinein. Es handelt sich um eine musikalische Komödie nach Art eines Sing-Spiels in 6 Bildern für Sprecher, Soli, Chor und Orchester. Es ist das letzte, unvollendet gebliebene Bühnenstück mit dem Libretto von Hans Adler (nach Ch. M. Wieland), vollendet und orchestriert von dem sonst unbekannten Karl Haußner. Die Fabel könnte von Karl Valentin stammen: Ein Eseltreiber vermietet sein Tier an einen Zahnarzt, aber nicht den Schatten des Esels. Und darüber entbrennt ein Streit. Das Ganze gipfelt in einem absurd wirkenden Prozess. Kurios ist dabei, dass dieses Spätwerk wie eine Komposition des jungen Strauss anmutet.
Als mehr Beethoven denn Strauss entpuppt sich das „Festspiel mit Tänzen und Chören“ nach August von Kotzebues Schauspiel „Die Ruinen von Athen“ (CD 14). Hier hat Strauss geschickt Beethovens Musik zu dem Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ verwendet und bearbeitet. Das Sujet passt zu dem freiheitlich denkenden Beethoven. Kotzebues Schauspiel, das zur Zeit der türkischen Besetzung Griechenlands spielt, enthält den flammenden Aufruf, sich gegen die türkischen Unterdrücker zu erheben.
Musikalisch ist an der Edition nichts auszusetzen. Den Löwenanteil der musikalischen Arbeit leisteten seinerzeit das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und die Bamberger Symphoniker mit dem Strauss-Kenner Karl Anton Rickenbacher, der ein Gespür und Händchen für Repertoire-Raritäten hatte. Die klangliche Qualität ist durchweg gut.
Das 40-seitige Booklet ist geschmackvoll aber bescheiden. Jede CD ist mit Tracks, Werkangaben, Interpreten und Zeiten aufgelistet. Wolfgang Stähr hat aus der Not (Werkfülle) eine Tugend gemacht und einen lesenswerten Essay verfasst, der mehr Über- als Detail-Blick gibt – wie sollte man auch auf drei Textseiten die Fülle der eingespielten Werke würdigen. Wer mag, der kann sich unter Zuhilfenahme der einschlägigen Strauss-Literatur oder auch diverser Wikipedia-Artikel kundiger machen. Peter Heissler
The Unknown Richard Strauss: Anna Gourari, Karl-Heinz Steffens, Sebastian Hess, Bodil Arnesen, Jennifer Crohns, Stefan Vladar, Peter Ustinov, Eberhard Büchner, Mette Ejsing, viva-nova-Chor, Rundfunkchor Berlin, Wilde Gung’l, Bamberger Symphoniker, Münchener Kammerorchester, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Jaroslav Opela, Karl Anton Rickenbacher, Robin Gritton; 15 CDs DG 00028948397303