Rossini in Paris

Fast seit Anbeginn hat sich Rossini in Wildbad nicht nur um die Bespielung des kaum 10.000 Einwohner-Ortes im Nordschwarzwald, der kurz zuvor noch schlicht Wildbad hieß, gekümmert, sondern sich aller nie geahnten Lücken in unseren Plattenregalen angenommen. Neben Rossinis Opern fanden auch Werke von Mayr, Pavesi, Vaccaj sowie Meyerbeer und Mercadante – von jenen die herrliche Semiramide und die nicht weniger bemerkenswerten I Briganti   – ihren Weg auf die CD. Die Besetzungen der ersten Jahre waren nicht durchwegs dazu angetan, den Ruhm der Festspiele zu mehren. Darüber, dass es keine DVDs gibt, wollen wir, da wir nicht mit dem häufig anzutreffenden szenischen Desaster konfrontiert sind, nicht undankbar sein. Für den Guillaume Tell, der in der Inszenierung des Festspielleiters Jochen Schönleber alles andere als begeisternd ausfiel, ist nun eine DVD angekündigt. Bei Naxos, quasi dem Stammhaus von Rossini in Wildbad, erschienen mit Le Siége de Corinthe (Naxos 8.660329-30) und Guillaume Tell (Naxos 8.660363-66) zwei Aufnahmen, die jetzt viele Scharten der Vergangenheit ausmerzen und den französischen Rossini beleuchten. Über den Siège de Corinthe, seine Werk-, Aufführungs- und Aufnahmegeschichte hat Geerd Heinsen alles gesagt.

siege de corinth naxosEs war ein schrecklich schwüler Sonntagnachmittag, als im Juli 2010 in Bad Wildbad die erste konzertante Aufführung des Siège de Corinthe in der Trinkhalle stattfand und man in den beiden Pausen japsend ins Freie flüchtete. Es herrschte eine Schwere, die sich zunehmend auch auf die Aufführung legte, was man der im Rahmen von drei Aufführungen entstandenen Aufnahme nicht anmerkt. Nach dem Mitschnitt aus Lyon von 2001 und jenem zehn Jahre älteren aus Genua, bei dem Geerd Heinsen zu recht die Nase rümpfte, liegt nun eine kompetente Aufnahme der Oper vor, mit der Rossini den Bogen von der Revolutionsoper zum Pomp des Zweiten Kaiserreiches schlug, womit der Siège zum Vorbild aller Werke wurde, die in den nächsten Jahrzehnten an der Opéra herauskamen. Der Kampf der Griechen gegen die Türken nahm die panhellenischen Begeisterung in ganz Europa auf, mit der sich auch das Bürgertum unter den Bourbonen identifizierte. Das Werk endet mit einer Schwerterweihe und der Beschwörung eines aus der Asche auferstehenden Griechenland, die geradewegs zu Didos Vision eines neuen Troja in den Troyens von Berlioz zu führen scheint. Von Jean-Luc Tingaud geht auf der Aufnahme mehr Spannung aus, als man es von der Live-Aufführung in Erinnerung hatte. Er hat Sinn für das französische Idiom, natürlich, ist ein sanfter Pultstratege, der die Tableaux geschickt aufbaut und die Sänger behutsam anleitet. Majella Culllagh singt die zwischen Liebe zum Vaterland und dem Feind, also Korinth und Mahomet, schwankende Palmyra ohne größere innere Anteilnahme, aber mit der gesammelten Erfahrung ihrer Belcanto-Beschäftigung, gewinnt der Partie trotz ihres flachen Soprans und dem grisselig grauen Timbre berückende Momente ab, darunter im Finale in „Juste ciel“ (aber das macht fast jede Interpretin dieser Arie, muss man fairerweise sagen, sie ist einfach effektvoll geschrieben…).  Besser als in Erinnerung auch Miachel Spyres als sensibler Néocles, dessen kometenhaften Aufstieg man damals nicht unbedingt vorhergesagt hätte, und Marc Sala in der Vaterrolle des Cléomène. Lorenzo Regazzo, so Geerd Heinsen, „beweist seine Klasse im Dramatischen mit einem dräuenden Mahomet“. Recht länglich ist das Ballett zu Beginn des zweiten Aktes des Siège.

Ebenso wie der Pas de trois et Choeur tyrolien, der im Mitschnitt des gut vierstündigen und kompletten Guillaume Tell, den Antonino Fogliani im Sommer 2013 zum 25jährigen Bestehen der Festspiele dirigierte, in der Version original angehängt ist; dazu zwei weitere Ergänzungen, darunter Rossinis neues Finale für die dreiaktige Pariser Fassung von 1831 (interessanterweise in anderer Besetzung gegenüber der Gesamtaufnahme mit u. a. Giulio Pelligra als Arnold und Marco Filippo Romano als Guillaume). Hier zeigt Fogliani, wie packend und spannend er die Ensembles zu gliedern versteht, wie er die Virtuosi Brunensis aus Brünn und den Camarata Bach Choir aus Posen dramatisch befeuert, er Soloeinwürfe in die Tableaux einschmilzt, alles steigert und griffig serviert. Sicherlich fehlt es in den Soloszenen, in den Duos und Trios an passionierter Gestaltung, an Individualität, Tiefe und Reife, doch alles kann man nicht haben. Andrew Foster-Williams ist mit seinem kernig-konzisen und dunklen Bariton, eher Bass-Bariton, in der Titelrolle ein markanter Gestalter, er verfügt über eine sichere Technik mit gutem Atem, liefert aber trotz allem eine eher blässliche Interpretation. Als seine Frau Hedwige und Sohn Jemmy sind die pastose, manchmal klanglich unausgeglichene Alessandra Volpo und die lyrisch dünne Tara Stafford recht gut. Michael Spyres singt den Arnold fast ein wenig unscheinbar, freilich mit schönem baritonalem Fundament, guter, nie auftrumpfender Strahlkraft in „Asile héréditaire“, wo er die Anstrengung nicht verhehlen kann, aber im Duo mit Guillaume „Mathilde, idole de mon âme“ und im Duo mit Mathilde bleibt er doch fast phlegmatisch. Alles, was Judith Howarth als Mathilde macht, wirkt, wenn nicht wirklich frisch, so doch klug gestaltet, behutsam und bedacht gesungen, oftmals zu kalkuliert, aber in „Sombre forêt“ breitet sie den Glanz einer majestätischen Rossini-Szene aus. Ausgezeichnet Nahuel Di Pierro als alter Melchthal und Walter Fürst, Artavazd Sargsyan als Fischer Ruodi und Marco Filippo Romano als Leuthold.  Sehr lesenswert ist Reto Müllers Text im Beiheft, der Rossinis Rückzug von der Bühne mit der Julirevolution, der Abdankung Karl X. und der neuen Regierung des Bürgerkönigs Louis-Philippe erklärt.

An Richard Bonynge, der 2005 die oben erwähnte Semiramide dirigiert hatte, erinnert eine andere Naxos-Aufnahme (8.573254), auf der er Bearbeitungen für Klavier und Orchester nach Motiven aus Norma, Frau Diavolo, Pacinis Gli Arabi nelle Gallie und der von Rubini in Il Pirata eingelegten Arie „Tu vedrai la ventura“ dirigiert, die Carl Czerny mit feinem Geschäftsinn kurz nach den jeweiligen Uraufführungen auf den Mark gebracht hatte. Die im Dezember 2013 in London mit der australischen Pianistin Rosemary Tuck und dem English Chamber Orchestra entstandene Aufnahme der vier umfangreichen Variationswerke zeigt, welche hurtige Brillanz die Komponisten der Zeit darauf verwandten, die Zugstücke der Epoche einem breiteren Publikum in glänzendem Licht zu präsentieren. Das hört man doch gerne nochmals.

R.F.