Liszt, Mussolini und danach

 

Einfach nur „Pezzo fantastico“ heißt das zweite der Sei pezzi op. 44 von Giuseppe Martucci (6. Januar 1856 in Capua – 1. Juni 1909 Neapel). Und es ist tatsächlich fantastisch, was Martucci dem Spieler an pianistischer Equilibristik abverlangt, während er den Hörer mit den folgenden Sätzen u.a. „Colore orientale“ und „Barcarola“, sinnlich umschmeichelt. Die abschließende Tarantella mag als Verbeugung vor Neapel gelten, wo er am Conservatorio San Pietro a Majella studierte, an dem er ab 1880 als Klavierlehrer und, nur unterbrochen von seiner Tätigkeit als Leiter des Konservatoriums in Bologna, schließlich als Direktor wirkte. In Bologna, wo Respighi zu seinen Schülern gehörte, hatte Martucci 1888 die italienische UA des Tristan dirigiert. Martucci war alles andere als ein komponierender Funktionsträger; im Gegenteil – er war ein im Ausland erfolgreich konzertierender und von Liszt und Rubinstein bewunderter Pianist mit einer großen Neigung zu deutscher Musik, Beethoven, Schumann und Brahms, und die zeitgenössische französische und britische Musik. Jahrhunderts.

Klaviermusik des 20 Jahrhunderts bei Brillliant: Giuseuppe Martucci

Neben zwei großen Klavierkonzerten und zwei Sinfonien, die Toscanini in New York neben weiteren Orchesterwerken Martuccis auf die Programme seiner Konzerte mit den NBC Symphony Orchestra setzte, stellen die Klavierwerke, die nahezu seine gesamte Lebenszeit umspannen, den Hauptteil seines Schaffens dar. Die Werke op. 44, 50, 51 und 70 stammen aus den 1880er Jahre, sind wunderbar Bravourstücke für den Konzertsaal und Salon. Auch wenn Martuccis Werke, nicht zuletzt anlässlich seines hundertsten Todestages 2009, auf CD weitgehend greifbar sind, bildet diese Klavierauswahl, die zudem von Alberto Miodini mit gebotener Bravour gespielt wird, einen überraschenden Einstieg in die 20 CD-Box von Brillant Classics mit italienischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts, 20th-Century Italian Piano Music (20 CDs Brilliant 9470), wobei allein schon der Hinweis auf italienische Klaviermusik Musikfreunde nervös machen dürfte.

Wer kam nach Frescobaldi, Scarlatti und Clementi? Laut Riccardo Muti stellte Martucci in dem von der Oper beherrschten Musikleben seiner Zeit eine Ausnahme dar, „Später setzten Casella und Dallapiccola diesen Trend fort und verbanden die jahrhundertealte Dominanz des Melodrams mit der, wie man sie verstand, „dusty instrumental tradition“. Diese Männer waren Helden, weil es Mut bedurfte, auf einem Gebiet erfolgreich zu werden, das zu dieser Zeit nicht sehr populär war“.

 

Klaviermusik: Roffredo Caetani/Fondazione Camillo Caetrani

Die 20 CDs sind 15 Komponisten gewidmet – Cilea, Respighi und Pizzetti werden jeweils zwei, Casella gar drei CDs zugestanden – worunter sich Unbekannte wie Roffredo Caetani, Guido Alberto Fano und Niccolò Castiglioni mischen, dazu Mario Castelnuovo-Tedesco, Nino Rota; die meisten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren, prägten aber das Musikleben Italiens im Zeitalter des Faschismus, sei es in Konfrontation oder in Verherrlichung. Dallapiccola (1904-75), Nino Rota (1911-79), Niccolò Castiglione (1932-96) und als einzig noch lebender Komponist der 1955 geborene Ludovico Enaudi gehören zu den Youngstern. Die Aufnahmen entstanden zwischen 2008 und 2016, mit Ausnahme der 1968 in der Villa Litta in Mailand aufgenommenen Malipiero-Auswahl.

 

Klaviermusik: Francesco Cilea/ Wikipedia

Zehn Jahre jünger als Martucci, bei dem er in Neapel studierte, hat der Adriana Lecouvreur-Komponist Francesco Cilea (1866 – 1950),der später ebenfalls das Konservatorium in Neapel und ab 1913 das von Palermo leitet, viel für das Klavier geschrieben. Er selbst soll kein herausragender Pianist gewesen sein, wofür seine Begleitung bei Carusos Aufnahme von „No, più nobile“ kurz nach der Uraufführung herangezogen wird. Entsprechend schlicht wirken die unzähligen kleinen Stücke, Mazurken, Walzer, wie denn überhaupt die Komponisten vor Sonaten etwa in der Tradition der Wiener Klassik zurückschrecken und das kleine Albumblatt, Foglio d’album oder Feuille d’album, bevorzugen. Die reizvollen Caféhaus-Petitessen werden von Pier Paolo Vincenzi gespielt, der sich bei den Stücken für vier Hände als Verstärkung Marco Gaggini holte.

 

Nicht jede CD muss eingehend behandelt werden. Der ebenfalls 1866 geborene Ferruccio Busoni wird einfach übersprungen, da sich Busonianer vermutlich bei anderen Aufnahmen umfassend informieren. Ausgesprochen reizvoll, charmant, wiederum sind die Stücke des 1868 in Turin geborenen, einer jüdischen Familie entstammenden Leone Sinigaglia (1868 – 1940), der 1944 nach der Festnahme durch die Nazis einem Herzanfall erlag. Er studierte ab 1894 in Wien und Prag, kannte Brahms und Goldmark, wurde durch Dvorák auf Volksmusik aufmerksam gemacht und arrangierte rund 500 piemontesische Volkslieder. Von dieser Beschäftigung zeugt die Danza piemontese, die Alessandra Génot und Massimiliano Génot in der Fassung für Geige und Klavier spielen, während die ebenfalls in den ersten Jahren nach 1900 entstandene Ouvertüre „Le Baruffe Chiozzotte“ einen post-rossinianischen Reiz besitzt, die Albumblätter op. 7 haben einen nostalgisch verfeinerten Reiz.

 

Klaviermusik: Leone Sinigallia/ Wikipedia

Interessant die Biografie des aus einem der ältesten italienischen Adelsgeschlechter stammenden Principe di Bassiano und Duca di Sermoneta Roffredo Caetani (1871 – 1961). Liszt war sein Taufpate, seine Nichte war mit Igor Markevitch verheiratet, er studierte u.a. in Berlin und Wien, reiste 1902 nach Bayreuth und lebte nach 1911 mit seiner Gattin zwei Jahrzehnte in Paris – es lohnt sich, im Beiheft die Liste der Gäste zu lesen, die sich im Salon einfanden – bevor sie sich 1932 im Palast der Caetani in Rom niederließen. Der Großteil von Caetanis schwelgerischen Werken entstand in dem Jahrzehnt vor und nach der Jahrhundertwende (eine Ausnahme stellt die in Weimar 1926 uraufgeführte Oper Hypathia da, von der es eine alte Radioaufnahme gibt/ G. H), darunter die großdimensionierte, dreiviertelstündige Sonate op. 3 (1893), die von Beethoven, Brahms, Weber beeinflusst scheint und die Alessandra Ammara mit Haltung und Gefühl für die Harmonik spielt. Kaum vorstellbar, dass bei den Längen nicht der eine oder andere in den Salons in seinem Fauteuil entschlummerte.

 

Klaviermusik: Guido Alberto Fano/ archviofano

Ebenfalls eine große Sonate steht im Zentrum der Guido Alberto Fano (1875 – 1961) gewidmeten CD. Der jüdische Komponist studierte u.a. bei Martucci in Bologna und wurde später Direktor des Konservatoriums in Neapel. Ab 1922 wirkte er am Konservatorium in Mailand, wo er 1938 aufgrund der Rassengesetze der Faschisten seine Stelle verlor, die er als alter Mann nach dem Krieg wiedereinnehmen konnte. Die von Pietro De Maria gespielte E-Dur-Sonate ist ein bewundernswert vielgestaltiges Stück, in dem Fanos Bewunderung für Strauss und Busoni, denen er in Deutschland begegnet war, zum Ausdruck kommt. Nachdem es dann mit Fanos ebenfalls aus den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts stammenden Quattro Fantasie etwas zu betulich und länglich wird, folgen als Herzstück der Ausgabe Werke von Respighi, Pizzetti, Malipiero und Casella. Die Vertreter der generazione dell’ottanta, also der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geborenen, die als Dirigenten oder Pianisten eine internationale Karriere vorweisen konnten, im Zentrum des italienischen Musiklebens standen und – vor allem die letzten drei – als Begründer der modernen italienischen Musik gelten, zeichnen gebrochene Biografien aus. Sie verhielten sich gegenüber Mussolinis faschistischer Diktatur vorsichtig lavierend und ließen sich vereinnahmen, wie Respighi, stützten die faschistische Kulturideologie, wie Malipiero und Pizzetti, der gleich 1925 das „Manifesto degli intellettuali fascisti“ unterzeichnete, oder erlagen zumindest zeitweise deren Faszination, wie der mit einer Jüdin verheiratete Casella, der 1937 ein Mysterium zur Verherrlichung des Äthiopien-Feldzugs komponierte, aber weiterhin die internationale Moderne (u.a. Strawinsky, Schönberg, Bartók) propagierte, etwa durch die Gründung des Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik in Venedig.

 

Ottorino Respighis (1879 – 1936) frühe f-moll-Sonate (CD 8) ist ein impressionistisch duftiges Stück, das noch nicht das klangsinnliche Gespür verrät, das sich Respighi u.a. nach 1900 durch sein Studium bei Rimski-Korsakow erwarb. Michele D’Ambrosio, der auch die drei Casella-CDs übernahm und dem damit der Großteil dieser Klavieraufnahmen zufiel, lässt in den Sei pezzi PO44, deren letztes die Serenata aus dem 1905 uraufgeführten Re Enzo aufgreift, neben spätromantischer Virtuosität Respighis wachsende Individualität erkennen, die sich am deutlichsten in Respighis freier Klaviertranskription der Antiche danze ed arie erweist.

 

Klaviermusik: Ildebrando Pizetti/ Wikipedia

Die beiden umfangreichsten Klavierstücke Ildebrando Pizzettis (1880 – 1968) , die Sonata von 1942 und die Variationen über ein Thema aus seiner Oper Frau Gherardo (CD 11), sind frei von politischem Dünkel, vor allem erste ist ein ausdrucksstarkes, sicherlich düsteres Stück, dessen starke Gefühle Giancarlo Simonacci zum Ausdruck bringt. Die zahlreichen kleinen Stücke (CD 10), etwa Da un autunno già lontano, Le Danze, Poemetto romantico, bleiben in ihrem Nachklang auf die Jahrhundertwende etwas farblos.

 

Einen großen Überblick über das Klavierwerk von Gian Francesco Malipiero (1862 – 1973) gibt Gino Gorini (CD 12). Selbst die frühen Stücke verraten wenig von Malipieros Begeisterung für Ravel, de Falla, Strauss, Schönberg und Strawinsky, insbesondere dessen Sacre du printemps, allenfalls eine Nähe zu Debussy ist zu spüren, reflektieren auf melancholische Weise aber die Schrecken und Auswirkungen des Ersten Weltkriegs: La morte die morti, Barlumi und Risonanze. Unverkennbar der gewichtige, eigenständige, manchmal etwas akademische Ton von Malipieros Musik in Hortus conclusus von 1946 und Cinque studi per domani von 1959.

 

Faszinierend ist die Welt des Alfredo Casella (1883 – 1947). Eines Kosmopoliten, der ab 1896 das Konservatorium in Paris besuchte, wo er nahezu zwanzig Jahre lebte, eine internationale Karriere als Dirigent und Pianist hatte und befreundet mit Ravel, Enescu, Debussy und de Falla war, Kontakt zu Strauss, Mahler, Busoni und den russischen Modernen hatte und tragisch endete, da ihm das Nachkriegsitalien seine Nähe zum faschistischen Regime nicht verzieh. Als ausgezeichneter Pianist schuf er ein großes Oeuvre. Seine stilistische Wandlungsfähigkeit zeigen die drolligen Miniaturen À la maniére de, in denen er 1913 u.a. Wagner, Fauré, Brahms, Debussy, Strauss und Franck portraitierte (CD 13). Auch in den Nove pezzi op. 24 von 1914 (CD 14) widmete Casella im Bemühen um eine nicht nur italienische, sondern europäische Kunst einzelnen Abschnitte seinen Kollegen, darunter Strawinsky, Pizzetti, Ravel, Bartok und Albeniz. Die intensive 22minütige Studie A notte alta op. 30 von 1917 entspricht in ihrer tiefschwarzen Trauer den zuvor erwähnten Werken Malipieros aus der Zeit des Esten Weltkriegs. Beispiele für die spätere, neoklassizistisch spielerische Richtung Casellas sind die Canzoni popolari italiane op. 47 oder die Pezzi infantili (CD 15).

 

Klaviermusik: Alfredo Casella/ Wikipedia

Letztere sind Mario Castelnuovo-Tedesco gewidmet. Die Auswahl der Klavierstücke Castelnuovo-Tedescos (1895 – 1968/ CD 16), die Claudio Curti Gialdino 2013 in Neapel aufnahm, beschränkt sich auf seine Frühzeit, bevor der aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie in Florenz stammende Komponist aus dem Musikleben gedrängte wurde und durch Toscaninis Hilfe 1939 nach Amerika gelangte, wo er rund 15 Jahre in den Hollywood Studios arbeitete: Populär waren einst die 15minütigen Vignetten Alt-Wien und die von Gieseking geschätzte neapolitanische Rhapsodie Piedigrotta; acht Tänze aus Re David  vermitteln einen guten Eindruck von der Oper, in der sich Castelnuovo-Tedesco erstmals mit seinem jüdischen Erbe beschäftigte.

Die CD des „leading exponent in Italy of twelve-tone music“, als welcher Luigi Dallapiccola bezeichnet wurde (CD 17), beinhaltet die Sonatina canonica (1943), sein erstes erhaltenes Klavierstück, dessen spritzig experimentellen Charakter Maria Clementi zu fein hämmerndem Ausdruck bringt. Enthalten sind auch die Tre episodi aus dem 1948 uraufgeführten Ballett Marsia sowie aus den 1950er Jahren das gewichtige, elfteilige Notenbüchlein für seine Tochter Annalibera Quaderno musicale di Annalibera und die relativ häufig aufgeführte Tartiniana seconda nach Giuseppe Tartini (mit dem Geiger Luca Fanfoni).

 

Viel Freude verbreitet Michelangelo Carbonara mit Musik Nino Rotas (1911 – 1979/CD 18). Ausgebildet u.a. von Pizzetti und Casella, später in Philadelphia von Fritz Reiner, und Jahrzehnte lange Leiter des Konservatoriums in Bari darf man Rota nicht auf seine Filmmusik reduzieren; sein Florentinerhut ist eine wunderbare spätgeborene italienische Buffa. In der Suite (1976) aus dem Casanova-Film, dem nostalgischen Walzer oder den 15 Préludes (1964) erlebt man Rotas Musik als pompöse Opernparaphrase und abwechslungsreich tollendes, schelmisches, witziges Spiel. Einer anderen Zeit gehört der Mailänder Niccolò Castiglione (1932-96) an, der ein fleißiger Besucher der Darmstädter Sommerkurse war, bei denen er ab 1958 – wie Nono – als Dozent wirkte. Ab 1966 war Professor an mehreren amerikanischen Unis, ab 1970 unterrichtete er an Konservatorien in Oberitalien und lebte in Brixen. Von einem Sommer in den Dolomiten erzählt denn auch sein bemerkenswerter Klavierzyklus Come io passo l’estate (1983), der aus konzise geschliffenen Miniaturen besteht, die meisten weniger als eine Minute lang, die gleich im ersten Stück „Arrivo a Tires“ walzend den Stil der Zweiten Wiener Schule mit dem Geist der deutschen Romantik verbinden. Enrico Pompili, aus Bozen stammend und deshalb vielleicht diesen Werken verbunden, spielt diese brillanten Stücke, hinzu kommen Aperçus wie Das Reh im Wald oder das fünfteilige nur eineinhalb Minuten dauernde In principio era la danza, mit kristalliner Schärfe, Bravour und verführerisch sich veränderndem Ton. Im frühen Cangianti (1959), seinem mit zehn Minuten umfangreichsten Klavierstück, reizt Castiglione alle dynamischen und rhythmischen Möglichkeiten aus (CD 19).  Ist Castiglioni eher Eingeweihten bekannt, steht Einaudi für breiten kommerziellen Erfolg.

 

Klaviermusik: Ludiovico Einaudi/ Wikipedia

Ludovico Einaudi (1955), dessen Vater Giulio 1933 den gleichnamigen, sehr renommierten Verlag gründete und dessen Großvater Luigi ab 1948 einige Jahre Präsident der Republik Italien war, studierte u.a. bei Berio sowie in Tanglewood und trat 1986 mit seinem Klavierzyklus Time out in Erscheinung, bevor er sich zehn Jahre später durch Virginia Woolfs The Waves zu den fließenden Bewegungen seines erfolgreichen Klavieralbums Le onde inspirieren ließ und im Film- und Popbereich erfolgreich wurde. Für die Musik Enaudis, der sich am liebsten als Minimalist seiht, bedarf es eines ausgewiesenen Spezialisten wie des Niederländers Jeroen van Veen, welcher der aus verschiedene Alben der Jahre 1996-2009 kompilierten Auswahl, darunter auch Le onde, eine notturne Eleganz verleiht, die zeigt, dass sich die italienische Klaviermusik des 21. Jahrhunderts gar nicht so weit von den stimmungsvoll und sanft lullenden Momentaufnahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf den ersten CDs dieser Box entfernt hat. Rolf Fath