Osteuropäisches

 

Hätte ich nicht vor Jahren im Minsker Opernhaus das Ballett Anyuta gesehen, hätte ich sicherlich nicht so interessiert nach dieser CD des St. Petersburg Philharmonic Symphony Orchestra und des Dirigenten Yuri Serov gegriffen. Mit zehn Ausschnitten aus Anyuta bietet die Aufnahme (Naxos 8.573883) einen Eindruck von diesem abendfüllenden Zweiakter nach Tschechows Erzählung Anna am Halse, der 1986 am San Carlo in Neapel in der Choreographie von Valery Vasiliev erstmals aufgeführt wurde und seither das Repertoire zahlreicher russischer Kompagnien, darunter auch des Moskauer Bolshoi Theaters, ziert. Die Musik stammt von dem 1939 geborenen (und 1999 in St. Petersburg gestorbenen) Valery Gavrilin, der nach der Inhaftierung der Mutter in einem Kinderheim aufwuchs – also eine Geschichte, wie sie aktuell der aus Minsk Stammende Schriftsteller Sasha Filipenko in seinem Roman Rote Kreuze erzählt – am Leningrader Konservatorium studierte, als Kritiker und Redakteur wirkte und mit Film- und Theatermusiken Aufmerksamkeit fand. Für The Russian Notebook (1965) erhielt er die höchsten Auszeichnungen. Bei den herben, folkloristisch angeregten acht Liedern, die alle ein individuelles Gesicht zeigen, aufregend, klagend, manchmal in einem post-mussorgskyschen Sprechgesang, manchmal extrem und experimentell, denkt man am ehesten an den von Dmitri Hvorostovsky im Westen bekannt gemachten Altmeister einer neuen russischen Folklore Georgi Sviridov. Es wundert nicht, dass Serov und die Mezzosopranistin Mila Shkirtil sich u.a. auch für Sviridov eingesetzt haben (8.573685). Shkirtil singt die Gavrilin-Lieder mit einem leuchtenden, sanft klagenden – drei der Lieder sind mit „Lament“ überschrieben – wie im umfangreichsten „Winter“ betitelten Lied in wilde Vokalisen ausbrechenden Mezzosopran, dessen virtuoser Einsatz sich auch für die Oper empfehlen würde. Anyuta bietet tollste Ballettmusik. Einen Walzer, der natürlich an Schostakowitsch denken lässt, eine Tarantella, bei der Minkus grüßen lässt. Es stört nicht und man merkt es den pianistisch entworfenen lebhaften Abschnitten nur gelegentlich an, dass es sich bei den meisten Stücken um Orchestrierungen früher Klavierstücke Gavrilins handelt, denn die Musik ist zweckmäßig und wirkungsvoll und mit Gespür für die Forderungen des Balletts zusammengeschweißt, welches die Geschichte der 18jährigen Halbwaisen Anna erzählt, die einen mehr als 30 älteren Beamten heiratet, sich ihrer Verführungskraft bewusst wird und diese gierig ausspielt. Serov und das St. Petersburg haben keine Scheu, auf die unmittelbare Wirkung der Musik zu setzen und ihre Effekte kraftvoll auszuspielen. In dichten Nahaufnahmen, sentimentalen Landschaften und mitreißenden Ballszenen (Quadrille) geben die zehn Ausschnitte einen fabelhaften Eindruck von dem Ballett, das ich mir sofort wieder anschauen würde.

 

“I would like to create a symphony from the murmur of waves, the rustling of centenary forest, the shimmering of the stars, our little songs and my unending longing,” schrieb der litauische Komponist Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875-1911) 1908 seiner Frau. Čiurlionis war Maler und Komponist, studierte, gefördert von einem polnischen Grafen, in Warschau Musik, sodann u.a. bei Reinicke und Jadassohn in Leipzig, interessierte sich parallel dazu für Malerei und Philosophie und begriff sich als Synästhetiker. Ein Fall wie der des nahezu gleichalten Skrjabin. Erst nach seinem Tod setzte langsam die Anerkennung für den heute als Nationalhelden verehrten Maler von rund 280 häufig mit Vortragsanweisungen oder Musikgattungen beschriebenen Bildern und Komponisten von etwa 340 Orchester-, Klavier- und Vokalwerken und Kammermusik ein. Die beiden sinfonischen Dichtungen wurden erst nach dem Tod von Čiurlionis uraufgeführt: 1912 In the Forest und wegen des immensen Aufwands erst 1936 The Sea (bleiben wir der Einfachheit halber bei den englischen Titeln). Sie sind Anfang und früher Höhepunkt einer eigenen litauischen Musik. Ideen zu einer sinfonischen Schöpfung konnte er ebenso wenig umsetzten wie eine Oper über die litauischen Legendenfigur Jurate. Das Lithuanian National Symphony Orchestra und sein Leiter Modestas Piténas führen den unvorbereiteten Hörer mit den drei großen Orchesterwerken aus den Jahren 1901 bis 1907 in einer musikalischen Endlosschleife auf eine veritable Entdeckungsreise (Ondine ODE 1344-2), in der  Mahler- und Strauss-Nachklänge in minimalistischen Wendungen in feinen Bildern zerfließen. Orchester und Dirigent entwickeln die Sogwirkung und den meditativen Hintergrund, die offenbar einen wesentlichen Reiz dieser endlos wellend, webenden Musik ausmachen. Es handelt sich um die Ersteinspielung der sinfonischen Ouvertüre Kestuti, sowie die sinfonischen Dichtungen In the Forest und The Sea, die erst in unserem Jahrhundert in ihrer eigentlichen Gestalt neu- oder wiederentdeckt wurden: die unvollendete Ouvertüre in einer am 22.9.2000 zum 125. Geburtstag von Čiurlionis erstmals aufgeführten Rekonstruktion durch den Komponisten Jurgis Juosapaitis,  und die mehrfach von anderen Komponisten „verbesserten“ und gekürzten sinfonischen Dichtungen in ihrer ungeschminkten Originalgestalt. Rolf Fath