Die erfreuliche Knappertsbusch-Renaissance geht weiter. Wohl kein Label setzte sich in den letzten Jahren so intensiv für den „Kna“ ein wie Orfeo. Dies verdient an dieser Stelle gesondertes Lob. Zuletzt erschienen die Bayreuther Meistersinger von 1960 (C 917 154 L); erstmals in bestmöglicher Tonqualität), der Münchner Lohengrin von 1963 (C 900 153 D); gleichsam der Heilige Gral in der Diskographie) und eine Doppel-CD mit Werken von Beethoven, darunter die siebte Sinfonie und das vierte Klavierkonzert (C 901 162 B / als Solist brilliert Wilhelm Backhaus). Nun also eine weitere Ausgrabung, diesmal aus dem Archiv des WDR: zwei Konzertmitschnitte aus dem Kölner Funkhaus von 1962 und 1963, somit der Spätphase dieses Dirigenten. In Köln am Rhein war Hans Knappertsbusch, verglichen mit München und Wien, eher selten zu Gast. Immerhin liegt bereits seit einem Jahrzehnt eine weitere Platte mit Wagners Siegfried–Idyll und Brahms‘ vierter Sinfonie vor – natürlich ebenfalls bei Orfeo, möchte man beinahe hinzufügen (C 723 071 B). Die Neuerscheinung (C 916 172 A) ist für den Sammler indes nicht wirklich so neu, waren die nunmehr präsentierten Aufnahmen doch schon seit langem anderweitig greifbar. Neu ist, dass sie diesmal klanglich aufbereitet wurden, da auf die Originalbänder zurückgegriffen werden konnte. Wunder darf man sich nicht erwarten, handelt es sich doch ausschließlich um Mono-Produktionen (wie bei Knappertsbusch leider die Regel), doch darf der Rundfunk-Klang durchaus als gediegen bezeichnet werden.
Das kürzeste enthaltene Werk, die gut zehnminütige Ouvertüre zu Webers Oper Euryanthe, ist in gewisser Weise beinahe der wichtigste Kaufgrund, handelt es sich doch um die einzige überlieferte Aufnahme unter Knappertsbuschs Dirigat; die anderen Werke liegen in Alternativen vor. Der typische Stil des knorrigen Kapellmeisters ist tatsächlich bereits nach wenigen Takten spürbar. Das ist tiefstes 19. Jahrhundert, in dessen Gedankenwelt der Dirigent, im Dreikaiserjahr 1888 geboren, noch sozialisiert wurde. Anekdotenhaft ist überliefert, dass der „Kna“ die Euryanthe-Ouvertüre als „Scheißstück“ (sic) bezeichnet haben soll. Glücklicherweise ist von einer etwaigen Geringschätzung bei der Aufnahme nichts spürbar. Eher möchte man sagen: So und nicht anders. Die Ouvertüre diente als Auftakt dieser Radioproduktion vom 14. Mai 1962. Es folgte das dritte Beethoven-Klavierkonzert in c-Moll mit dem früh verstorbenen ungarischen Pianisten Géza Anda als Solisten. Die einleitende orchestrale Exposition kommt mächtig, wie könnte es anders sein. Anda erweist sich als kongenial. Energisch und expressiv sein Anschlag, nuanciert seine Phrasierung, virtuos sein Spiel insgesamt. Den Ton gibt gleichwohl der damals 74-jährige Knappertsbusch an – wie wäre es seinerzeit auch anders möglich gewesen? Da ist er wieder, der hochromantische Beethoven, wie man ihn heutzutage weitgehend verschmäht. Das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester erweist sich schon in den frühen 1960er Jahren als beachtlicher Klangkörper, der imstande ist, dem nicht immer einfachen und probenscheuen Dirigenten zu folgen. Überhaupt kommt das recht düstere und sehr symphonisch angehauchte dritte Klavierkonzert, wie das strahlende und kaiserliche fünfte, einem Knappertsbusch meines Erachtens auch viel eher noch entgegen als das leichtgewichtigere vierte. Der gewaltige Kopfsatz (hier knapp 18 Minuten lang) kann bereits als der Höhepunkt des Werkes gelten, das Orchester bedrohlich grummelnd im Ausklang desselben. Im verinnerlichten Largo gibt sich Anda von seiner lyrischen Seite und weiß auf ganzer Linie auch hier zu überzeugen. Interessant, dass ein als konservativ geltendes dirigentisches Urgestein und ein als modern titulierter Pianist so gut miteinander harmonieren können. Im abschließenden Rondo ist naturgemäß wieder mehr Raum für orchestrale Zurschaustellung – ohne dass sich Knappertsbusch freilich jemals in den Vordergrund drängte. Als einfühlsamer Konzertbegleiter war er sogar hochbeliebt. Hier hört man, wieso. Prächtig ausmusiziert die Coda in C-Dur.
Die Dritte von Brahms war für Hans Knappertsbusch so etwas wie der Parsifal unter den Sinfonien. Sie diente als Abschluss der besagten Kölner Rundfunkproduktion von 1962. Dem Vernehmen nach wünschte er sich den langsamen Satz für sein eigenes Begräbnis. Die Liebe für dieses Werk drückt sich auch diskographisch aus: Von keiner anderen Brahms-Sinfonie gibt es eine solche Vielzahl an Knappertsbusch-Aufnahmen. Chronologisch betrachtet, ist die Kölner Aufnahme die vorletzte; ihre Tempi sind beinahe auf die Sekunde gleich mit seiner allerletzten (und womöglich besten) mit dem Südfunk-Sinfonieorchester von 1963 (Hänssler CD 93177). Lediglich im berühmten Scherzo ist er in Köln 1962 noch etwas flotter. Eine Gesamtspielzeit von bald 42 Minuten muss gleichwohl als monumental gelten. Kurioserweise gibt es ausgerechnet die hochdramatische erste Brahms-Sinfonie, die man auf den ersten Blick womöglich am ehesten mit ihm assoziieren würde, nicht unter seinem Dirigat – er setzte sie nach 1947 auch nie mehr auf eines seiner Konzertprogramme. Von Leichtigkeit kann bei Knappertsbuschs Deutung der Dritten indes keine Rede sein. Er verleiht dem Werk eine Größe, wie sie andere Interpreten nie erreichten (als einzige Ausnahmen mögen hier das letzte Konzert von Otto Klemperer [Testament] und vielleicht noch Leonard Bernsteins Wiener Einspielung [DG] angeführt werden). Beinahe buchstabierend tastet er sich vor und leuchtet die Partitur in ihrer vollen Schönheit bis ins kleinste Detail aus. Hier darf alles sein, kann sich allmählich entwickeln. Großartig der Spannungsaufbau und die Temporückungen, die wiederum ans 19. Jahrhundert gemahnen. Wehmütig gelingt der langsame Satz (unglaubliche zehneinhalb Minuten lang) und erweist sich in „Kna’s“ Deutung tatsächlich als einer Totenfeier würdig. Das Poco allegretto ist hier nicht forsch und tolldreist, sondern vielmehr bedeutungsschwer und verhalten. Den Finalsatz eröffnet Knappertsbusch mit beeindruckenden Orchesterausbrüchen; stellenweise sieht man vor seinem geistigen Auge den in jeder Hinsicht großen Dirigenten sich titanenhaft aufbäumen. Die Tempogestaltung ist hier selbst für „Kna“-Verhältnisse einmalig. Das unverhofft gnädig-sanftmütige Ende beschließt das Werk und diese herrliche Interpretation.
Als einziges auf der Doppel-CD enthaltene Werk datieren die Brahms’schen Haydn-Variationen auf den 10. Mai 1963. In derselben Rundfunkübertragung wurde auch Bruckners siebente Sinfonie gespielt, deren Auftakt sie bildeten. Womöglich steht uns die offizielle Veröffentlichung des Hauptwerkes noch bevor? Die Haydn-Variationen jedenfalls sprengen mit 23:12 Minuten jeden Rahmen – selbst die Stuttgarter Aufnahme von 1963 ist marginal schneller (22:55). Sehr feierlich der Chorale St. Antoni, dunkel timbriert die Blechbläser. Die Wuchtigkeit hält auch in den acht Variationen an. Prachtvoll dann auch das Finale. Einen Wermutstropfen gibt es indes: Zwischen etwa 19:52 bis 19:58 fällt der Ton komplett aus. Darüber wurde bereits auch in Internetforen gerätselt. Ein Produktionsfehler? Summa summarum eine willkommene Bereicherung der „Kna“-Diskographie, sowohl für Einsteiger als auch für Fortgeschrittene. Die labeltypisch qualitativ hochwertige Präsentation nebst informativem Booklet rundet die Sache ansprechend ab. Womöglich war dies auch noch nicht Orfeos letzter Beitrag in Sachen Knappertsbusch … Daniel Hauser