Grosses Kopfkino

 

 

Regisseur Fritz Lang verfilmte 1924 in Berlin die Nibelungen – ein gigantisches Ufa-Stummfilmprojekt mit beachtlichem Aufwand, bestehend aus zwei Filmen: Siegfried und Kriemhilds Rache. Nur wenige kennen den Komponisten der dazugehörigen Filmmusik: Gottfried Huppertz (1887-1937) war ein vielseitig begabter Musiker, ausgebildet als Sänger, Pianist und Komponist. Seine Karriere startete er als Opern- und Operettensänger, in zwei frühen Filmen von Fritz Lang hatte er Nebenrollen als Schauspieler, bevor er als Komponist von Filmmusik in Erscheinung trat: neben seinem Erstlingswerk, den Nibelungen, schuf er insbesondere auch die Musik für Fritz Langs Metropolis (1926) – nach dem Ursprungsmythos folgte die Zukunftsvision. Als er mit 49 Jahren früh starb, hinterließ er 47 komponierte Werke mit eigener Opuszahl, darunter neun Filmmusiken, und hatte damit einen wichtigen Grundstein für das Genre gelegt, auf den Hollywood mit Komponisten wie Wolfgang Korngold, Max Steiner und Franz Wachsmann weiter baute. 
Huppertz war anfänglich skeptisch, ob er in Konkurrenz zu Richard Wagners Nibelungen treten sollte. Doch das Drehbuch von Thea von Harbou (Fritz Langs Ehefrau, die bspw. auch das Drehbuch zu Metropolis und ‚M‚ schrieb) hatte nur noch wenige Motive mit Richard Wagners Ring gemein. Sie orientierte sich stärker am Nibelungenlied, Götter spielen in dem Drama um Liebe und Macht keine Rolle, Siegfried erhält den Nibelungenhort nicht vom Drachen, sondern vom später besiegten Nibelung Alberich, das Schwert heißt Balmung, nicht Nothung. Nach Siegfrieds Tod und Brünhildes Selbstmord setzt der zweite Film über Kriemhilds Rache an den Nibelungen ein, bei dem sie eigenhändig Hagen tötet. Fritz Lang bekundete seine Absicht wie folgt: „Es handelte sich um das geistige Heiligtum einer Nation. Es mußte mir also darauf ankommen, in einer Form, die das Heilig-Geistige nicht banalisierte, mit den Nibelungen einen Film zu schaffen, der dem Volke gehören sollte und nicht, wie die ‚Edda‘ oder das mittelhochdeutsche Heldenlied, einer im Verhältnis ganz geringen Anzahl bevorzugter und kultivierter Gehirne. Damit war die Bedingung gestellt, den Nibelungen-Film mit unerbittlicher Strenge von dem Schema der üblichen Kostümfilme loszulösen und ihn auf eine Basis zu stellen, die jenseits des Ausstattungsfilms und des Sensationsfilms stehend, dennoch etwas vom Prunk des ersten und vom hinreißenden Atem des zweiten hatte.“ Fritz Lang bewies Mut und setzte auf den quasi unbekannten Huppertz, um diese Ziele akustisch zu untermalen. Die Partitur ist wie der Film in sieben Gesänge unterteilt, sowohl in Siegfried (und zwar: Wie Siegfried den Drachen erschlug – Wie Volker vor Kriemhild von Siegfried sang und wie Siegfried nach Worms kam – Wie Siegfried Brunhild für Gunther gewann – Wie Brunhild zu Worms einzog und die Könige sich vermählten – Wie nach sechs Monden Siegfrieds Morgengabe, der Nibelungen Hort, zu Worms eintraf, und wie die Königinnen miteinander stritten – Wie Gunther Siegfried die Treue brach – Wie Kriemhild Hagen von Tronje Rache schwur) als auch in Kriemhilds Rache (Wie Kriemhild um Siegfried trauerte und wie König Etzel durch Rüdiger von Bechlarn um sie warb – Wie Kriemhild von der Heimat Abschied nahm, und wie sie von Herrn Etzel empfangen wurde – Wie König Etzel vor Rom lag, und wie Kriemhild ihre Brüder entbieten ließ – Wie Kriemhild ihre Brüder empfing – Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten – Der Nibelungen Not – Der Nibelungen Ende).

Im Zuge der Restaurierung von Fritz Langs Meisterwerke durch die Fernsehsender ZDF und ARTE wurden sowohl die Filmmusik zu Metropolis (mit dem RSO Berlin) als auch die Nibelungen (RSO Frankfurt 2009/10) auf CD eingespielt, beide mal dirigiert von Frank Strobel. Es handelt sich bei den Nibelungen um sage und schreibe 4,5 Stunden Musik für Siegfried (144 Minuten) und Kriemhilds Rache (126 Minuten). Gottfried Huppertz komponierte dazu eine überraschend zeitlos wirkende Musik ohne Exzentrik, über die man sich als Hörer nicht wunderte, würde sie in einem heutigen Film verwendet werden. Reminiszenzen an Wagners Ring sind immer wieder hörbar: Stimmungen, Klänge und Farben erinnern an das große Vorbild, ohne es direkt zu kopieren. Huppertz schuf ein eigenständiges Werk, eine sehr anschauliche Musik, die sich eng an den filmischen Begebenheiten orientiert und auch ohne Film beim Zuhören erahnen lässt, was gerade passieren könnte. Die überwiegend düster gehaltene Sage ist musikalisch für heutige Hörgewohnheiten als szenische Stimmungs- und Beschreibungsmusik nachvollziehbar. Kurz gesagt: eine wirksame Filmmusik, die Kopfkino ermöglicht, wenn man den groben Handlungssträngen der jeweils sieben Gesänge folgt. Im informativen Beiheft erklärt der Dirigent die kompositorischen Besonderheiten: Huppertz verwendet auch Leitmotive, doch nicht wie im Wagnerschen Sinn als Fortspinnungsprinzip, sondern als konsekutive, nebeneinander stehende Bestandteile. Beim einfachen Zuhören kann man die motivische Arbeit und Stringenz der Partitur ohne filmische Bestätigung allerdings oft nur erahnen, am deutlichsten bei Wiedererkennungsmotiven, die bspw. einem Handlungsort zugedacht sind. Das RSO Frankfurt unter der Leitung des Dirigenten Frank Strobel hat mit der in der Tradition spätromantischer Musik stehenden Nibelungen erwartungsgemäß keine Probleme: schillernde Farbigkeit und ein sehr guter Klang runden das sehr gute Bild dieser Ersteinspielung ab. Als symphonisches Großwerk zum An- und Durchhören funktioniert diese Musik dennoch eher portioniert denn als Gesamtwerk am Stück. (4 CD, Pan Classics PC10345)
Markus Budwitius