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Dieterich Buxtehude (1637–1707) war vom 11. April 1668 bis zu seinem Tod als Organist an St. Marien in Lübeck angestellt. Der damals 20-jährige Johann Sebastian Bach (1685–1750) schätzte Buxtehude so sehr, dass er 1705 die mehr als 465 Kilometer von Arnstadt nach Lübeck zu Fuß auf sich nahm, um den alternden Organisten spielen zu sehen und vermutlich mit ihn zu studieren.
Dort schrieb Buxtehude mehrere Werke, darunter Membra Jesu nostri patientis sanctissima („Die allerheiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus“) BuxWV75 (1680), ein Zyklus von sieben Passions-Kantaten, dass die betreffende Aufnahme von Luthers Bach Ensemble unter der Leitung von Tymen Jan Bronda enthält. Die im März 2021 entstandene Einspielung in der lutherischen Kirche in Groningen (Niederlande) ist die jüngste in einer Reihe von Aufführungen, unter anderem von John Eliot Gardiner (Archiv Produktion 447 298-2) und Ton Koopman (Erato 2292-45295-2).
Der Zyklus besteht aus sieben einzelnen Kantaten, die in aufsteigender Reihenfolge einer Körperpartie des Gekreuzigten gewidmet sind: 1. Ad pedes (An die Füße), 2. Ad genua (An die Knie), 3. Ad manus (An die Hände), 4. Ad latus (An die Seite), 5. Ad pectus (An die Brust), 6. Ad cor (An das Herz) und 7. Ad faciem (An das Gesicht). Dieses Werk gilt als das erste lutherische Oratorium und war ein Vorbild für Bach, insbesondere der siebte Teil (Salve caput cruentatum), den Paul Gerhardt (1607–1676) schon als Grundlage für das Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden (1656) verwendete, das später von Bach in der Matthäus-Passion BWV 244 (1727) bearbeitet wurde. Allerdings stammt die Melodie, die Gerhardt und anschließen Bach verwendet haben, von Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart, einen Liebeslied komponiert von Hans Leo Haßler (1564-1612).
In dieser Aufnahme wurden die fünf Gesangsstimmen von die Solisten Kristen Witmer (Sopran I), Lucia Caihuela (Sopran II), Jan Kullmann (Alt), William Knight (Tenor) und Matthew Baker (Bass) übernommen. Das Barockorchester besteht aus neun Musikern, einschließlich des Basso continuo.
Von der Aufführung her ist dies eine sichere Empfehlung für Hörer, die sich mit dieser höchst einflussreichen Komposition des frühen norddeutschen Barocks vertraut machen wollen. Das Begleitheft enthält eine hochwertige Reproduktion eines Gemäldes von Giovanni Bellini, Der tote Christus, von zwei Engeln gestützt (1470–1475). Leider sind die gesungenen Texte nicht im Heft enthalten; stattdessen gibt es eine „persönliche Notiz“ und eine sehr kurze Einführung in das Werk durch den Dirigenten auf Englisch und Niederländisch, sowie biografische Skizzen auf Englisch und Farbfotos von einigen der Mitwerkenden. Hätte man die Bilder und Biografien der Interpreten weggelassen, wäre genug Platz für die lateinischen Gesangstexte und zumindest deren englische Übersetzungen geblieben. Dann wäre es ein hochwertiges Produkt auf dem Niveau der großen Plattenfirmen gewesen (Dieterich Buxtehude, Membra Jesu nostri mit Kristen Witmer, Lucia Caihuela, Jan Kullmann, William Knight, Matthew Baker, Luthers Bach Ensemble, Tymen Jan Bronda; Brilliant Classics 96592.).
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Osterkantaten des „zweite Wahl“ Thomaskantors: 1723 wollte der Magistrat der Stadt Leipzig Georg Philipp Telemann (1681-1767), den Kantor und Musikdirektor in Hamburg, als Thomaskantor anstellen. Er lehnte das Angebot ab, weil sein Arbeitgeber ihn behalten wollte. Die zweite Wahl war Christoph Graupner (1683-1760), ein ehemaliger Thomaner und Studenten der Universität Leipzig. Wegen Arbeitsverpflichtungen als Hofkapellmeister in Darmstadt musste er auch die Stelle als Thomaskantor absagen. Der Leipziger Ratsherrn Abraham Christoph Platz sagte dazu: „Da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müsse man mittlere nehmen“. Johann Sebastian Bach (1685-1750) war nur die dritte Wahl für die Stelle, die er bis Ende seines Lebens besetzte.
Der Knabenchor Capella vocalis und Pulchra musica (aus dem Lateinischen: „Schöne Musik”) mit den Solisten Sebastian Hübner (Tenor), Johannes Hill (Bass) und Jan Manuel Jerlitschka (Countertenor) unter der Leitung von Christian Bonath bietet vier zwischen 1719 und 1743 entstandene Passions- und Osterkantaten in einer Weltpremiere Aufnahme an. Als Komponist von über 1400 Kantaten war Graupner viel produktiver als Bach, aber Aufnahmen von ihnen sind selten.
Alle vier Kantaten auf der vorliegenden zirka 57-minütigen CD bestehen aus jeweils sieben Sätzen und sind Vertonungen von Texten aus der Feder seines Schwagers, des Darmstädter Dichters Johann Conrad Lichtenberg (1689-1751). Trotz der Zeitspanne von 24 Jahren gibt es eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den hier vorgestellten geistlichen Kantaten. Diese prägnanten Werke folgen einem ähnlichen kompositorischen Muster, so dass sie leicht zu verstehen und angenehm zu hören sind. Im Gegensatz zu den heute viel bekannteren Kirchenkantaten Bachs enthalten Graupners Werke keine langen Instrumentalpassagen oder komplizierten Gesangslinien.
Die Kantate zum Gründonnerstag „Die Frucht des Gerechten“ (GWV 1126/33) aus dem Jahre 1733 enthält drei Rezitative, zwei Arien (eine für Alt und eine für Bass) und zwei Chöre. Die 1725 entstandene Kantate zum Karfreitag „Eröffnet euch ihr Augenquellen“ (GWV 1127/25) hat drei Chöre, drei Accompagnati und eine Bass-Arie. „Der Sieg ist da“ eine Kantate zum 1. Ostertag (GWV 1128/43) vom 1743 besteht aus zwei Chören, drei Rezitativen und einer Arie für Tenor sowie einer für Bass. Die Kantate zum 2. Ostertag „Ihr werdet traurig sein“ (GWV 1129/19) ist das älteste Werk auf dieser Platte; es wurde 1719 komponiert. Es umfasst zwei Chöre, ein Duett, zwei Rezitative, eine Bass-Arie und ein Accompagnato für Tenor.
Die Solisten, der Chor und das Orchester agieren durchweg mit Leidenschaft, Engagement und Liebe zum Detail. Diese CD ist ein überzeugendes Argument dafür, diesen unterschätzten Zeitgenossen Bachs kennenzulernen. Obwohl Graupner künstlerisch nicht als ebenbürtig mit Bach gilt, war er Teil der musikalischen Landschaft, in der, der Thomaskantor wirkte. Für unser Verständnis von Bach ist es von großem Wert, nicht nur Telemann und Georg Friedrich Händel (1685-1759) zu kennen, sondern auch Graupner, der zu seinen Lebzeiten bekannter war als Bach und von einigen Zeitgenossen als der größere Komponist angesehen wurde (Christoph Graupner, Osterkantaten, Sebastian Hübner, Johannes Hill, Jan Jerlitschka, Capella vocalis, Pulchra musica, Christian Bonath; Capriccio C5411).
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.Die Viola d’amore war das Lieblingsinstrument von Attilio Ariosti (1666-1729), einen in Bologna geborenen Komponisten, der in der Saison 1716/17 in London zu einem ernsthaften Konkurrenten Georg Friedrich Händels (1685-1759) wurde. Ariosti war vor allem als Opernkomponist bekannt; bevor er nach London zog, hatte er mit seiner ersten Oper in Venedig Tirsi (1696) und anschließend als Hofkomponist am Hof Sophie Charlottes in Lietzenburg bei Berlin (1697-1703) Erfolge. Zu seinen Freunden und Förderern am Hof gehörte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der sich für Ariostis Verbleib am Hof aussprach, gegen die Abberufung nach Bologna durch die heiligen Väter, die es nicht dulden konnten, dass Ariosti im Dienste der protestantischen Kurfürstin von Brandenburg stand.
1724 veröffentlichte Ariosti „Sechs Lektionen für Viola d’amore und Continuo“ im Rahmen der Sammlung von Kantaten und Lektionen für die Viola d’amore in London. So steht es im Vorwort für den Leser, „Für Sie allein, Abonnenten und Dilettanten der Musik und der Violine, sollen die folgenden Stimmungen Sie auf das Üben der Viola d’amore vorbereiten, nach der von mir entwickelten Methode, die Sie kennenlernen wollten.(…. ) Da es notwendig ist, zuerst einige Übung in diesen Stimmungen zu bekommen, bevor man diese (= die Viola d’amore) in die Hand nimmt, habe ich sie deutlich auf der Geige dargestellt, was Ihnen helfen wird, sich sicher zurechtzufinden.(….) Sie werden dann verstehen, warum es eine Notwendigkeit (und nicht eine Laune) war, Sie über die Geige einzuführen und auf ihr zu üben, ohne die Sie nicht in der Lage wären, ohne beträchtliche Schwierigkeiten erfolgreich zu sein“.
Die vorliegende Aufnahme vom Oktober 2017 präsentiert alle sechs Lektionen und eine Kantate für Solo-Sopran Pur alfin gentil viola aus der Sammlung. Mauro Righini spielt die Viola d’amore; Ugo Nastrucci (Theorbe) und Danilo Costantini (Orgel und Cembalo) begleiten ihn. Elena Bertuzzi singt das Sopransolo in der Kantate mit der richtigen vorgetäuschten Emotion für einen Text, der das Vergnügen an der Viola d’amore als Instrument feiert.
Diese Platte ist empfehlenswert, weil sie eine selten gespielte Sammlung für ein Streichinstrument präsentiert, das aus dem allgemeinen Gebrauch gefallen ist. Die Klangqualität ist klar und präsent, so dass jedes Instrument in einer Studioakustik deutlich zu hören ist, die der Musik genügend Raum zum Atmen gibt, ohne dass ein aufdringlicher Nachhall entsteht. Das Begleitheft enthält zwei informative einführende Aufsätze, einen auf Englisch und einen auf Italienisch, sowie biografische Skizzen der Musiker ausschließlich in englischer Sprache. Der gesungene Text der Kantate ist jedoch nicht enthalten.
Ariosti war wohl der führende Vertreter der Viola d’amore; nur sein jüngerer Zeitgenosse Christoph Graupner (1683-1760) komponierte eine vergleichbare Anzahl von Werken für dieses Instrument. Diese Einspielung von Ariostis Sammlung bereichert unser Verständnis von Kammermusik mit der Viola d’amore im frühen 18. Jahrhundert und ist daher für Gelehrte und Kenner der Barockmusik von Bedeutung (Attilio Ariosti, Sechs Lektionen für Viola d’amore und Continuo mit Mauro Righini, Ugo Nastrucci, Danilo Costantini, Elena Bertuzzi; Brilliant Classics 95620).
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Neue Einspielungen von Komponisten der Renaissance, deren Werke wahrscheinlich nicht über ihre Lebenszeit hinaus aufgeführt wurde, veranlassen uns zu der Frage, wie sich die Musik vielleicht anders entwickelt hätte, wenn es eine kontinuierliche Aufführungstradition und damit einen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen gegeben hätte. Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525-1594) und Gregorio Allegri (1582-1652), zwei italienische Zeitgenossen der spanischen Komponisten Bernardino de Ribera (ca. 1520-ca. 1580), Juan Navarro (ca. 1530-1580), Sebastián de Vivanco (ca. 1551-1622) und Tomás Luis de Victoria (ca. 1548 – 1611), die auf der vorliegenden Aufnahme zu hören sind, haben die Entwicklung dessen beeinflusst, was wir gemeinhin „klassische Musik“ nennen.
Ein provokantes Gedankenexperiment ist, wie berühmte Musik von Wolfgang Amadeus Mozart geklungen hätte, wenn er sowohl mit spanische als auch italienische Renaissancekompositionen vertraut gewesen wäre. Er kannte einige Werke der italienischen Renaissance, z.B. das Miserere von Allegri, das er im April 1770, während eines Gottesdienstes in der Sixtinischen Kapelle hörte und später aus dem Gedächtnis schrieb.
Wie hätte sich Mozarts Musik entwickeln können, wenn der 14jährige auch de Ribera Navarro und andere gehört hätte? Diese Frage kann nicht beantwortet werden, aber sie macht uns bewusst, wie Aufführungstraditionen, die Musik zugänglich machen, die Musik beeinflussen, die wir schätzen. Der Zugang zu verschiedenen Renaissance-Kompositionen könnte zu einem anderen Wiener Klassizismus und damit zu einer anderen Romantik geführt haben usw.
Die vorliegende Platte bietet mehrere Weltersteinspielungen von Werken, die José Duce Chenoll, der muskalische Leiter, durch Archivrecherchen gefunden hat. Chenoll argumentiert in der Begleitbroschüre überzeugend, dass die Kenntnis dieser weniger bekannten Komponisten für das Verständnis des renommierten de Victoria unerlässlich ist, zumal de Ribera und Navarro seine Lehrer an der Kathedrale von Ávila waren. Mit dem Vokalensemble Amystis und der Instrumentalgruppe Ministriles de la Reyna bietet Chenoll die Möglichkeit, die Klangwelt eines bisher wenig erforschten Musikgenres zu erkunden.
Die Aufnahmequalität ist hervorragend, da sie das Gefühl einfängt, mit den Musikern in einer Kathedrale zu sein, wo diese Musik aufgeführt werden sollte. Die Aufnahme entstand im September 2021 in der Kirche von Santa Maria, Requena, Valencia. Das Beiheft enthält eine wissenschaftliche Einführung in die Musikwerke von Chenoll in englischer und spanischer Sprache, sowie biographische Skizzen und Farbfotos der Musiker. Die lateinischen Gesangstexte sind leider nicht enthalten; die Texte zu diesen Stücken hätten anstelle von Bildern und Biografien in das Booklet aufgenommen werden können, ohne dessen Umfang zu vergrößern (Bernardino de Ribera, Juan Navarro, Sebastián de Vivanco und Tomás Luis de Victoria, Meister der spanischen Renaissance mit Amystis, Ministriles de la Reyna, José Duce Chenoll; Brilliant Classics 96409). Daniel Floyd
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