Drei und Sechs  und ein Fake

 

Wurde der Dirigent Hans Knappertsbusch (1888-1965) lange Jahre primär als großer Wagner-Interpret angesehen und galt insbesondere als der Experte für das Bühnenweihfestspiel Parsifal, so trat sein umfangreiches Wirken auch als Konzertdirigent demgegenüber beinahe schon ungebührlich in den Schatten. Vor allem im deutschen Repertoire war der Kna zu Hause, gewissermaßen bei den drei großen Komponisten mit dem „B“ im Nachnamen: Beethoven, Brahms und Bruckner. Die letzteren beiden berücksichtigt Profil Edition Günter Hänssler nun mit einer 10 CDs umfassenden Kollektion (PH18048). Darin versammelt sind die „kompletten“ Sinfonien von Johannes Brahms (worauf noch zurückzukommen sein wird) sowie die Sinfonien Nr. 3, 4, 5, 7, 8 und 9 von Anton Bruckner, also diejenigen, welche Knappertsbusch vom Meister von St. Florian dirigierte. Die Sechste sparte er aus, was allerdings seinerzeit nicht ungewöhnlich war, galt sie doch als die schwächste der späteren Werke. Dass die frühen Sinfonien fehlen, sollte keinen verwundern; sie waren zu Knappertsbuschs Lebzeiten alles andere als im Standardrepertoire etabliert und tun sich bekanntlich noch heute schwer, sich im Konzertleben zu behaupten.

 

Knappertsbusch-Sammlern sei bereits an dieser Stelle versichert, dass sie diese Box im Grunde genommen nicht benötigen, da alle darin enthaltenen Aufnahmen seit vielen Jahren in anderweitigen Erscheinungen zu haben sind. Gleichwohl ist es auf den ersten Blick sicherlich reizvoll, sie allesamt in einer handlichen und einheitlichen Kollektion vorliegen zu haben. Wer sich unter den Verehrern dieses Dirigenten aber erhofft hatte, Profil sei ein regelrechter Coup gelungen, der wird leider ernüchtert: Wenn der Titel der Box nämlich suggeriert, hier sei auch eine authentische Aufnahme der ersten Sinfonie von Brahms inkludiert worden, dann fiel das Label auf einen Hoax herein. Es hat sich nach heutigem Kenntnisstand nämlich bedauerlicherweise kein Tondokument dieses Werkes unter Knappertsbusch erhalten. Ja er scheint die heroische Erste, von Hans von Bülow als „Beethovens Zehnte“ gepriesen, gar nicht besonders geschätzt zu haben, da nur eine einzige Nachkriegsaufführung, 1947 in Wien, belegt ist. Zwar gastierte er, wie das Booklet weismachen will, 1956 tatsächlich in Dresden und dirigierte die dortige Sächsische Staatskapelle, doch stand dieses Werk mitnichten auf dem Programm. Nun muss man indes fairerweise hinzufügen, dass bereits auf dem Label Andromeda vor Jahren eben diese angebliche Knappertsbusch-Aufnahme vorgelegt wurde (ANDRCD 5066). Findige Bewunderer des Dirigenten konnten sogar herausfinden, dass es sich in Wahrheit um einen Mitschnitt Otto Klemperers mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester aus dem Jahre 1955 handelt. Wenn man genau hinhört, fällt diese geradlinige, gleichsam nüchtern-sachliche Lesart auch ohne dieses Wissen aus dem Rahmen. Man vergleiche nur einmal die Finalsätze dieser Ersten und der unzweifelhaft von Knappertsbusch dirigierten Zweiten mit den Münchner Philharmonikern von 1956. Wo letztere nicht an Pathos spart und durch eine fast schon wahnwitzige Agogik mit abenteuerlich anmutenden Tempowechseln aufwartet, die ein typisches Merkmal dieses Dirigenten sind, wirkt die Erste auffällig zurückhaltend und ohne jegliche Extravaganzen. Man muss beinahe sagen: Glücklicherweise ist diese eher durchschnittliche Darbietung nicht vom großen Kna. Die ungleich gelungenere Zweite wurde übrigens in der vor kurzem erschienen Jubiläumsbox 125 Jahre Münchner Philharmoniker ebenfalls bedacht und erfuhr somit (neben einer fulminanten Eroica von 1953) ihre späte offizielle Veröffentlichung.

 

Ein ganz besonders inniges Verhältnis verband Knappertsbusch mit Brahms‘ Dritter, seinem Parsifal unter den Sinfonien. Wohl keine andere Sinfonie hat er mehr geliebt und öfter dirigiert als diese. Daher rührt auch der Umstand, dass ungewöhnlich viele Mitschnitte überliefert sind, selbst noch aus seinen letzten Jahren. Profil entschied sich für eine etwas frühere Aufnahme von 1955 mit den Wiener Philharmonikern, welche die ganz späten extremen Tempovorstellungen noch nicht so ausgeprägt aufweist, freilich gleichwohl fast 39 Minuten dauert. Gleichsam in jedem Takt wird die absolute Begeisterung des Dirigenten für diese Sinfonie ersichtlich. Schade, dass keine einzige seiner Interpretationen davon für die Nachwelt in Stereo festgehalten wurde – sie würde sich wohl auch heute noch einer größeren Bekanntheit erfreuen. Es ist jedenfalls auffällig, dass ausgerechnet Knappertsbusch, der Augenzeugenberichten zufolge ein preußischer General hätte sein können, für diese vielleicht intimste Komposition der Spätromantik schwärmte. Auf den ersten Blick würde man ihn ja eher bei den dramatischeren Sinfonien Nr. 1 und 4 verorten. Die Vierte dirigierte er zumindest etwas häufiger als die Erste; es haben sich zwei Tonaufnahmen erhalten, von denen Profil auf diejenige von 1953 aus Köln zurückgriff (es gibt noch eine von 1952 mit dem Bremer Philharmonischen Staatsorchester, die orchestral etwas abfällt). Die Tempi sind nicht einmal unbedingt besonders langsam, wobei wir keine Interpretation aus seinen letzten Lebensjahren haben. Monumental und im besten Sinne deutsch die Coda des Kopfsatzes, sehr verinnerlicht der langsame Satz, wild herausfahrend das Scherzo und an Dramatik überbordend das Finale.

Bei den Bruckner-Aufnahmen dominieren die Berliner (Nr. 4, 8 und 9) und die Wiener Philharmoniker (Nr. 5 und 7). Lediglich bei der Dritten von 1954 wurde auf das Bayerische Staatsorchester, in einem gewissen Sinne eigentlich das Knappertsbusch-Orchester (er war ja langjähriger Bayerischer Generalmusikdirektor in München), zurückgegriffen. Bei diesem Komponisten bediente sich Knappertsbusch bis zuletzt der heute als „korrumpiert“ bezeichneten Fassungen von Loewe und Schalk; lediglich die in der Fassungsfrage wenig betroffene Siebente ist hiervor quasi ausgenommen. Diese Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern von den Salzburger Festspielen 1949 wurde zurecht schon vor langem offiziell herausgebracht (Orfeo C 655 061 B). Sie wird ihrem legendären Ruf gerecht. Einmal mehr gilt: Wäre nur der Klang ein wenig besser.

 

Tontechnisch am überzeugendsten ist in der gesamten Box fraglos die Einspielung der Fünften von Bruckner, handelt es sich hierbei doch um eine für Decca produzierte Studioaufnahme, ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern, aus dem Jahre 1956. Allerdings ist der hier vorliegende Transfer hörbar nicht annähernd so ideal wie der von Decca selbst, zumal im glasklaren japanischen Remastering (Decca UCCD-9634). Die Einspielung gilt unter Kennern als berühmt-berüchtigt, fallen die Eingriffe der zugrunde gelegten Schalk-Edition doch ganz drastisch aus. Knappertsbusch setzte diese Fassung damals bei den Aufnahmesitzungen durch, obwohl schon Mitte der 50er Jahre eigentlich bekannt war, dass sie schwerlich Bruckners Grundintention entsprach. Die Striche sind makaber, die Instrumentierung megalomanisch anmutend mit verstärkten Blechbläsern und dem für Bruckner eigentlich untypischen und hier zumal im Finalsatz exzessiven Einsatz des Beckens. Trotz all dieser Einschränkungen müsste man lügen, behauptete man, die Coda ganz am Ende verfehlte ihre apotheotische Wirkung. In ihrer Theatralik beim Durchschreiten des Himmelstores mit den englischen Fanfaren erinnert es schon fast an einen Hollywood-Monumentalfilm der goldenen Ära. Auch wenn das Ergebnis mehr nach Wagner klingt: Allein diese Bruckner-Travestie ist die Box wert.

 

Die restlichen Sinfonien liegen allesamt aus Berlin vor. Bei der Romantischen handelt es sich um die einzige Kriegsaufnahme in der Box (September 1944). Klanglich fällt sie erstaunlicherweise nicht wirklich ab. Auch wenn nicht ganz die enorme Intensität von Celibidache erzielt wird (die aber auch ohne ihresgleichen geblieben ist), handelt es sich um eine noch heute konkurrenzfähige Interpretation, Fassung hin oder her. Zu den interessantesten Aufnahmen der Kollektion gehören aber besonders die Achte und die Neunte aus den Jahren 1951 bzw. 1950. Die Überlegenheit des Berliner Philharmonischen Orchesters demonstriert sich gerade in der Live-Situation dieser Konzertmitschnitte, ist es doch trotz der Proben-Aversion des Dirigenten im Stande, ihm weitestgehend tadellos zu folgen. Sinfonie Nr. 8 ist ein bisschen weniger titanenhaft als die ganz späte Studioeinspielung mit den Münchner Philharmonikern von 1963 (Westminster 471 211-2), wirkt dadurch insgesamt flexibler und passt sogar auf eine einzige CD. Vor allem im Finalsatz ist Knappertsbusch hier geschlagene dreieinhalb Minuten flotter unterwegs als in München. Wahrlich apokalyptisch dürfen die Blechbläser in der letzten Minute aufheulen, selbst wenn es die eingeschränkte Tontechnik eher erahnen lässt. Die Neunte schließlich beschließt das Ganze sehr adäquat und darf in derselben Liga ansiedelt werden wie Furtwänglers berühmte Kriegsaufnahme von 1944. Insbesondere das Scherzo kommt bei Knappertsbusch geradezu gruselig-gespenstisch herüber, wobei dies mutmaßlich auch ein wenig an der hier gespielten „verkehrten“ Fassung liegen mag.

Fazit: Trotz einer Fake-Aufnahme und nicht immer idealem Transfers eine summa summarum doch besitzenswerte Ansammlung bedeutender Interpretationen dieses legendären Dirigenten, die gerade für Einsteiger in Sachen Knappertsbusch von Interesse sein dürfte (Erscheinungsdatum 2018). Daniel Hauser