Aus den Archiven: „Die Zauberin“

Mit zwei seiner preiswerten Boxen feiert The Intense Media den Komponisten Peter Tschaikowsky zu seinem 175. Geburtstag. Zusammen genommen sind das zwanzig CDs. Gemessen an dem, was aus diesem Anlass sonst noch auf den Markt gelangte, ist das sehr viel für ein einziges Label. Nun handelt es sich hier nicht um Neuproduktionen. Es wird ausschließlich nur in Archive gegriffen. Immerhin.  Schließlich muss man ja wissen, was es so alles zu heben gibt. Die Auswahl kann sich sehen – und hören lassen. The Most Popular Ballets & Opera ist eine Box betitelt (600223). Da kann nichts schief gehen. Bei Tschaikowsky ist vieles beliebt und populär. Nur die Die Zauberin nicht. Sie macht die Auswahl eher ungewöhnlich. Der Oper kann eine Neuauflage nicht schaden, denn sie wird selten gespielt und ist noch seltener aufgenommen. In jüngster Zeit wurden in Erfurt, Baden-Baden und Wien Belebungsversuche unternommen. Es bleibt fraglich, ob ihnen Wirkung beschieden sein wird. Denn das symbolträchtige Stück mit einem Schuss Schneewittchen hat es in sich und endet auf sehr unwahrscheinliche Weise. Die als Pilgerin verkleidete Fürstin Eupraxia trifft im Wald ganz zufällig auf Kuma, die Wirtshausbesitzerin, der Zauberkräfte nachgesagt werden und die sie für Nebenbuhlerin ihres Gatten, des Fürsten Kurtjatew, hält. Sie verabreicht ihr tödliches Gift. In Wahrheit aber ist Kuma die Geliebte ihres Sohnes Juri, wird aber gleichzeitig vom fürstlichen Vater begehrt. Der nun ersticht deshalb in rasender Eifersucht den eigenen Sohn und verfällt dem Wahnsinn.

Es gibt von dieser Oper nicht viele Aufnahmen. In der Box findet sich die erste, 1954 entstandene Einspielung mit Chor und Orchester des Moskauer Rundfunks unter Samuel Samosud. Für mich ist sie sehr stimmungsvoll und unverwechselbar in ihrem typisch russischen Idiom.  Die Geschichte kommt wie ein Märchen mit wunderbarer lyrischer Musik herüber. Für die damalige Zeit ist die Besetzung mit Natalia Sokolowa (Kuma), Veronika Borissenko (Fürstin), Georgi Nelepp (Juri) und Mikhail Kisselew (Fürst) höchst luxuriös. Alle vier vermitteln einen noch im 19. Jahrhundert verhafteten Gesangstil, der sich erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verlor. Obwohl nur ein Jahr später eingespielt, bringt die noch nicht ganz dreißigjährige Galina Wischnewskaja einen moderneren Zug in die Aufnahme von Eugen Onegin. Sie ist die Tatjana und für mich nach wie vor das Idealbild dieser Rolle. Mit Sergei Lemeschew als Lenski kommt ein Tenor ins Spiel, der mit Nelepp und Iwan Koslowski das legendäre, fast gleichaltrige russische Tenor-Dreigestirn bildete. Koslowski, 1900 geboren, war der Älteste, gefolgt von Lemeschew (1902) und Nelepp (1904). Die Titelrolle wird von Eugeni Bjelow gesungen, der Fürst von Iwan Petrow. Die Aufnahme ist unlängst auch beim originalen Label Melodija neu aufgelegt und bei dieser Gelegenheit von meinem Kollegen Rolf Fath bei operalounge.de besprochen worden.

Untrennbar mit dem Namen Tschaikowski verbunden sind seine drei großen Ballette. Schwanensee und Nussknacker werden vom L’Orchestre de la Suisse Romande unter Ernest Ansermet (1958/1959) sowie Dornröschen vom Minneapolis Symphony Orchestra unter Antal Dorati (1955) gespielt.

CD - Tschaikowsky Edition MembranDie andere Box (600211) enthält die sechs Sinfonien, beiden Klavierkonzerte, das Violinkonzert und diverse Orchesterstücke. Mehr passt nicht hinein. An Aufnahmen aus allen Zeiten mangelt es nicht. Tschaikowsky, der alle Genres bediente, ist hervorragend dokumentiert. Es ist eine gute Idee, mit der Zusammenstellung einen Querschnitt durch die Aufnahmegeschichte der Orchesterwerke anzubieten. Die älteste Aufnahme, nämlich die sinfonische Ballade Der Woyvode – Tschaikowski verarbeitete das Thema auch in seiner gleichnamigen ersten Oper – entstand 1941 mit dem NBC Symphony Orchestra unter Arturo Toscanini. Die jüngste ist die 1. Sinfonie von 2001 mit dem sehr poetischen Titel „Winterträume“, ein Opus voller Überraschungen, dirigiert von Herbert Blomstedt. Es spielt das Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden. Plötzlich wird klar, aus welcher Tradition Schostakowitsch kommt. Zwischen der Ballade und der Sinfonie liegen sechzig Jahre Annäherung an das Schaffen dieses Komponisten, um den kein Dirigent herumgekommen ist. Drei Namen sind schon gefallen. Georg Solti ist als nächster zu nennen. Er leitet die 2. Sinfonie. Wasilij Boyanov, im Westen wenig bekannt, hat mit der Dritten ein Heimspiel (1958). Wilhelm Furtwängler (1951) dirigiert die Vierte, Herbert von Karajan (1952/1953) die Fünfte. Die Pathétique, das so genannte Requiem, ist bei Evgeny Mravinsky (1956) in bester Obhut. Im Beginn ist die Nähe zum Vorspiel des dritten Tristan-Aufzuges unüberhörbar. Unter Mravinskys Händen klingen die Streicher unheimlich tief und dunkel. Er wühlt auf, ohne zu übertreiben.

CD Eugen Onegin (Querschnitt Memnbran)Bekanntes und Unbekanntes, Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit – bei Tschaikowsky liegen die Pole mal nah, mal weit auseinander. Diese Intense-Media-Edition offenbart viele Facetten seines universellen Werkes. In diesem Kontext wird sogar der alles überstrahlende Beginn des b-Moll-Klavierkonzertes, den jedes Kind kennt, erträglicher. Schon deshalb finde ich diese Neuerscheinung höchst erbaulich und erfrischend. Und Van Cliburn schlägt ja auch ganz neue Töne an, die einem noch heute, mehr als fünfzig Jahre nach seinem kometenhaften Aufstieg, ins Ohr fahren. Der 23jährige Pianist aus Texas hatte 1958, mitten im Kalten Krieg, den Internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewonnen und war von da an weltberühmt. Genau in diesem Jahr entstand die Einspielung mit den RCA Symphony Orchestra unter Kiril Kondraschin. Sie hat Kultstatus. Wo das Klavierkonzert ist, sind auch das Capriccio Italien (Antal Dorati mit den Minneapolis Symphony Orchestra/1954) und der Slawische Marsch (Royal Philharmonic Orchestra, dirigiert von Yehudi Menuhin/1994) nicht weit. In den Marsch hat Tschaikowsky ebenso wie in die Ouvertüre 1812 zum Kanonendonner die Zarenhymne eingebaut. Der Marsch ging später immer irgendwie durch bei den sowjetischen Machthabern, die vaterländische Konzertouvertüre in ihrer ursprünglichen Form nicht. Hier wurde die Hymne kurzerhand durch eine Melodie aus Glinkas Iwan Susanin (Ein Leben für den Zaren) ersetzt und dergestalt auch oft eingespielt. Schlecht klingt das nicht. Dorati lässt in seiner Produktion aber das Original spielen (ebenfalls Minneapolis/1954). Für die lärmende Francesca da Rimini ist Leopold Stokowski am Pult der New Yorker Philharmoniker (1947) genau richtig.

Tschaikowsky und Josif Kotek: Das Bild stammt aus dem jahr 1877 und zeigt tschaikowsky mit seinem vertrauten, dem Geiger Josif Kotek (1855 bis1885). Der war ein russischer Violinist und enger Vertrauter Tschaikowskis. Wiki: "Kotek studierte unter Jan Hřímalý am Moskauer Konservatorium Violine, sowie Musiktheorie und Komposition bei Tschaikowski und graduierte 1876. Auf Empfehlung von Nikolai Rubinstein wurde er von Nadeschda Filaretowna von Meck engagiert und spielte privat für sie auf ihrem Gut in Clarens. Dort half er Tschaikowski bei der Ausarbeitung seines Violinkonzertes, insbesondere bei der Ausgestaltung der Solopartien. Außer der gemeinsamen Arbeit verband die beiden auch eine romantische Liebesbeziehung." Nach dem Ende der Beziehung zog Kotek 1882 nach Berlin, studierte dort bei Joseph Joachim und Friedrich Kiel an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und kehrte nach Davos zurück, wo er am 4. Januar 1885 verstarb/ Foto Wiki

Tschaikowsky und Iosif Kotek/Wiki

Eines der persönlichsten Werke Tschaikowskys ist seine Manfred-Sinfonie nach Lord Byron. Angeregt hatte dazu hatte ihn der komponierende Dirigent Mili Balakirew. Zunächst lehnt er ab, auch aus Respekt vor dem verehrten Robert Schumann, der sich demselben Stoff in einem dramatischen Poem mit Musik zugewandt hatte. Der Stimmungswandel setzte ein, als Tschaikowsky im Oktober 1984 nach Davos gerufen wurde, wo der erst dreißigjährige Geiger Iosif Kotek mit Tuberkulose im Sterben lag. Beide hatten sich auf dem Gut der Frau von Meck kennengelernt und unterhielten zeitweise eine leidenschaftliche Beziehung. Jedem der vier Sätze schickt der Komponist eine kurze Inhaltangabe voraus, die in der schlicht und knapp gehaltenen Edition allerdings keine Erwähnung findet. Gleich zu Beginn heißt es: „Manfred irrt in den Alpen umher. Sein Leben ist zerschlagen, viele brennende Fragen bleiben unbeantwortet, nichts ist ihm geblieben außer den Erinnerungen. Paul Kletzki dirigiert das Philharmonia Orchestra (1954). Dass Kletzki mit den biographischen Hintergründen des Stückes vertraut war, ist eher unwahrscheinlich. Vieles liegt ja heute noch im Dunkeln – und in Russland unter Verschluss. Er war aber selbst ein Verfolgter, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Schon deshalb vermag er die Not, die Sehnsucht und die Verzweiflung, die in der Musik stecken, zum Klingen zu bringen.

Immer noch im Programm hat das Label die hinlänglich bekannte Szenenfolge durch die Oper Eugen Onegin in deutscher Sprache von 1954 (Membran 231853). George London singt die Titelrolle, Valeri Bak die Tatjana, Anton Dermota den Lenski und Gottlob Frick den Gremin. Am Pult steht Richard Kraus, der in der Box mit den Orchesterwerken das 2. Klavierkonzert mit Shura Cherkassky und den Berliner Philharmonikern leitet (1955). Rüdiger Winter