Jubiläen dienten lange dazu, Unbekanntes einem breiten Publikum vorzustellen. In Sachen Musik führten frühere Feierlichkeiten vielfach dazu, Komponisten, deren Werk ein Schattendasein fristete, dem modernen Hörer in Erinnerung zu rufen oder das Werk eines bekannten Meisters neu zu beleuchten. Die Plattenindustrie war hier besonders aktiv. So wurden in den beiden letzten richtigen Beethoven-Jahren (1970: 200 Jahre Geburt; 1977: 250 Jahre Tod) nicht nur vernachlässigte Kompositionen des Bonner komponisten eingespielt, sondern auch etliche seiner Zeitgenossen, während die Vivaldi-Veröffentlichungen im Jahr 1978, darunter jene monumental angelegte von Erato.
Aber seitdem sich das große Geld mit CDs nicht mehr verdienen lässt, sind die Gedenkjahre oft nur willkommene Anlässe, rasch aufgrund des vorhandenen Materials zusammengestellte CD-Boxen auf den Markt zu werfen, was im besten Falle eine in Zeiten des diskographischen Niederganges annehmbare Restverwertung darstellt, gelegentlich aber der Leichenfledderei nahekommt. Weniger bekannte Komponisten haben hier keine Chance, weil sie im Goldenen Zeitalter der LP nicht aufgenommen wurden und die Archive dementsprechend nichts hergeben. Das erklärt, warum keine großen Produktionen mehr an Komponisten erinnern, die in ihrer Zeit weltberühmt waren, die aber heutzutage kaum oder gar nicht gespielt werden.
Einer dieser vergessenen Heroen ist Nicolò Isouard, oft einfach „Nicolo“ oder „Nicolo de Malte“ genannt. Geboren wurde er 1775 auf Malta als Sohn eines Franzosen, ausgebildet wurde er auf der Heimatinsel, in Palermo und in Neapel. Als junger Mann arbeitete er als Organist in La Valletta, dann verdiente er sich schon ab 1794 seine ersten Opern-Sporen in Italien, bis er schließlich nach Paris ging und dort ab 1800 große Bühnenerfolge bis zu seinem frühen Tod 1818 feierte, unter anderem mit der 1810 aufgeführten Cendrillon, welche das amerikanische Label Albany Records (2CD Albany Troy 1721-1722) in einer Neuaufnahme zum 200. Todestag vorlegt. Das Werk ist eine Opéra comique, die von Isouard und seinem Librettisten Charles-Guillaume Etienne (1777-1845) originellerweise als Opéra-féérie bezeichnet wurde. Sie griffen dafür auf Perrault zurück, ohne ihm ganz zu folgen. Auf magische Elemente verzichteten sie trotz der neu erfundenen Gattungsbezeichnung weitgehend, die Handlung wurde vermännlicht (ein böser Stiefvater tritt an Stelle der bösen Stiefmutter, die Fee wird durch Alidor ersetzt), und die Verkleidung des Prinzen führte eine eigene Erzählebene ein. Das alles wurde durch Jacopo Ferretti, Rossinis Librettisten, von Etienne übernommen. Isouards Cendrillon und Rossinis Cenrentola aus dem Jahr 1817, gegen die das Werk des Franzosen keine Chance hatte, sind allerdings, abgesehen von der Vertonung an sich, zwei völlig anders geartete Werke.
Bei Isouard sind die Schwestern die Protagonistinnen, denen zwei möglicherweise den italienischen Stil parodierende, virtuose Duette und je eine Arie anvertraut werden: ein sehr hübscher, melancholischer Boléro für Clorinde (woran sich Auber offensichtlich beim Verfassen des entsprechenden Stückes im Domino noir erinnerte) und eine dramatische Arie für Tisbé. Obwohl Cendrillon keine Hauptpartie ist, wird bei Isouard das Schicksal der ungeliebten Tochter bzw. Schwester genau beobachtet und dargestellt. Cendrillons bontà in trionfo wirkt denn auch überzeugender als bei Ferretti/Rossini, wo das unglückliche Mädchen beinahe masochistische Züge zeigt. Isouards Werk könnte sich durchaus heutzutage als bühnentauglich erweisen, zumal wenn die Dialoge brauchbar inszeniert würden.
Die Partitur ist brillant geschrieben und enthält schöne und im Charakter unterschiedliche Nummern, nicht nur für die Sänger und den Chor (die Ouverture ist eine sehr einnehmende symphonie concertante für Horn und Harfe, und beiden Instrumenten ist auch ein Vorspiel zugedacht). Damit sie wirkt, sind jedoch Sänger-Darsteller vonnöten, welche nicht nur vokal auf der Höhe sind, sondern auch die besonderen Geheimnisse der französischen Diktion beherrschen.
Davon kann in dieser sympathischen Hochschul-Produktion, für die von Jennifer Gliere, William Tracy und Pierre Vallet eine eigene Ausgabe angefertigt wurde, leider nicht die Rede sein. Wie schon in der Aufnahme unter Bonynge, die vor 20 Jahren von Olympia veröffentlicht wurde, bemühen sich die jungen Sänger nach Kräften, den Anforderungen gerecht zu werden, kommen allerdings rasch an ihre Grenzen. Wahr ist jedoch auch, dass die Tontechnik die Stimmen zu direkt und grell abbildet. Das Orchester zeigt ebenfalls beste Absichten, nur dass die Finger etwa der Streicher nicht immer dem Geist gehorchen. Dem Dirigenten Pierre Vallet kommt das Verdienst zu, das Beste aus dem bescheidenen Ensemble zu holen, so dass man letztendlich gerne zuhört. Der Genuss wäre noch größer gewesen, wenn man die Dialoge behalten hätte. In den ursprünglichen Aufführungen an der Manhattan School of Music sprach man sie auf Englisch, hier blendete man nur wenige und zu allem Überdruss unter ganz anderen akustischen Bedingungen aufgenommene Bruchstücke auf Französisch ein. Vielleicht wäre in diesem Fall eine DVD-Veröffentlichung sinnvoller gewesen. Der neugierige Musikenthusiast muss sich also mit dem Sound begnügen, kann aber Cendrillon auf der Bühne erleben, wenn er im Mai 2019 nach Saint-Etienne fährt, wo unter der Ägide des Palazzetto Bru Zane die Oper gespielt wird. Allerdings, wie es scheint, kommt dort eine Adaptierung und Neuorchestrierung durch Adolphe Adam aus dem Jahre 1845 zur Aufführung. Dementsprechend verdienstvoll ist diese CD-Produktion, die trotz der angesprochenen Mängel durch den Rückgriff auf das Autograph Isouards Cendrillon in ihrer ursprünglichen Form erschließt und sie wagemutigen Intendanten, die eine Alternative zu Rossinis Cenerentola suchen, durchaus empfiehlt (mit Amanda Austin (Cendrillon), Michael St. Peter (Prince), Abigail Shapiro (Tisbé), Hyeree Shin (Clorinde), Marcel Sokalski (Alidor), William Huyler (Baron9, Marshall Morrow (Dandini),). Michele C. Ferrari