Hören und sehen

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Nach Winterreise (2014) und Schwanengesang (2019) war es nur eine Frage der Zeit, dass sich der kanadische Bariton Gerald Finley auch der Schönen Müllerin von Franz Schubert zuwenden würde. Er hat es getan. Die Aufnahme ist wie die beiden anderen bei Hyperion erschienen (CDA68377). Am Klavier begleitet der englische Pianist Julius Drake, der sich ausschließlich Liedern und Kammermusik widmet und damit in der Tradition seines berühmten Vorgängers Gerald Moore steht, der mit fast allen bedeutenden Sänger seiner Zeit – darunter Kirsten Flagstad, Elisabeth Schwarzkopf, Janet Baker und Dietrich Fischer-Dieskau – zusammenarbeitete. Anders als der diskrete Moore tritt er als Partner stärker in Erscheinung, setzt auffällige eigene Akzente. In der neuen Produktion fallen vor allem rasante Lösungen bei der Wahl des Tempos auf, die sogar einzelnen Wörter und Silben ergreifen. Dadurch erfahren die Lieder eine gewisse theatralische Wirkung, die sich dadurch noch verstärkt, dass hier und da immer mal wieder Koloraturen nicht nur angedeutet sondern auch ausgeführt werden.

Die Wanderschaft des Müllerburschen, die tödlich endet, wird von innen nach außen verlegt ohne äußerlich zu sein. Es handelt sich mehr eine Raumverschiebung. Wir hören den jungen Müller nicht nur, wir sehen ihn vor uns. Und wir begegnen auch seinem Widersacher, dem Jägersmann, wie auf einer Bühne. Er löst sich aus der Erzählperspektive und wird leibhaftig. Im Booklet spürt der Musikwissenschaftler und BBC-Sprecher Richard Wigmore diesen theatralischen Elementen mit Eindringlichkeit und Sachkenntnis nach. In Bezug auf das Lied Trockne Blumen, das er den Höhepunkt nennt, spricht er – um ein Beispiel zu nennen – von einem angedeuteten „Begräbniszug“. Noch bevor man es gelesen hat, hat man es genau so empfunden. Es fehlte nur noch die treffende Beschreibung.

Finley bringt für diesen Deutungsansatz die denkbar besten Voraussetzungen mit. Er ist vornehmlich als Opernsänger tätig und pflegt in seinem Repertoire die Vielfalt. Offenbar will er sich nicht auf ein Rollenfach festlegen lassen. Er singt Wagner und Verdi, Bartok und Janacek, dazwischen immer wieder Mozart – und Lieder. Seine Stimme ist elegant und geschmeidig geblieben. Deshalb kann er auch auf jede musikalische und inhaltliche Nuance dieser Müllerin reagieren. Für seine gut sechzig Jahre klingt er ausgesprochen jung. Ich weiß nicht, ob er oder wie gut er Deutsch spricht. Im Singen fällt ihm die Sprache Franz Schuberts und seines Textdichters Wilhelm Müller außerordentlich leicht. Er ist immer zu verstehen. Anders wäre seine hochindividuelle Interpretation auch nicht denkbar (30. 06. 22). Rüdiger Winter