Mit 12 CDs ist eine mit Paul Dessau Edition überschriebene Box bei Brilliant Classics erschienen. Dahinter verbergen sich Aufnahmen, die zwischen 1964 und 1980 in der DDR entstanden und zuletzt bei Berlin Classic in Einzelveröffentlichungen erhältlich waren, teilweise auch noch sind. So lobenswert diese Wiederauflage zum günstigen Preis ist, so sehr pflanzt sie jenes Bild des Komponisten fort, das das Kultursystem der DDR unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands einst vom umworbenen Komponisten entworfen hat. Ausgeblendet ist dabei (fast ganz) die wichtige Schaffenszeit Dessaus in den Jahren bis zu seiner Emigration nach Paris 1933 und die USA (1939). Dessaus Schaffen, so der Eindruck, den man damals erweckte, begann eigentlich erst mit seiner Rückkehr nach Deutschland, genauer: in seine Wahlheimat DDR, in der er bis zu seinem Tod 1979 lebte und arbeitete.
Dessau, der in den Zwanzigern mit Dirigenten wie Felix Weingartner, Arthur Nikisch, Otto Klemperer und Bruno Walter zusammen arbeiten konnte, gehörte zur Berliner Avantgarde der Vorkriegsjahre. Die Werke, die zu dieser Zeit entstanden, haben durchaus eine Nähe zu Hindemiths oder Weills Schaffen, es gibt ein großes Oeuvre an Filmmusik und die Auseinandersetzung mit dem damals neuen Medium Rundfunk. – Diese Phase Dessaus, die sich auch in den USA noch fortsetzt, gilt es noch zu entdecken. Wie lohnen das sein könnte, hat im Mai 2013 Frank Strobel in Frankfurt gezeigt, als er mit dem hr-Sinfonieorchester Paul Dessaus 1926 entstandenen Musiken zu den Alice Comedies (Trickfilme) von Walt Disneys aufführte. Auch aus der Beschäftigung mit seiner kulturellen Herkunft, die sich (vor allem in den dreißiger Jahren) künstlerisch in der Vertonung hebräischer Texte niederschlug, darf man als Aspekt einer Komponisten-Edition vermissen. Auch dies, wie etwa das hebräische Oratorium Hagadah shel Pessach nach einem Libretto von Max Brod (1934-36) ignorierten die DDR-Medien. Bis heute ist dieser Teil von Dessaus Werk nur wenig bekannt. Da waren die politischen Kantaten, Lehrstücke und Lieder wie Die Thälmannkolonne und No pasaran, die von Dessaus Nähe zur kommunistischen Bewegung zeugen, willkommener.
Erst die zweite Hälfte der Wahrheit ist dann Dessaus Schaffen und Wirken in der Deutschen Demokratischen Republik. Hier wurde er ab 1948 neben Hanns Eisler die zentrale ostdeutsche Komponistenpersönlichkeit seiner Generation. Neben zwei CDs mit Instrumentalmusik, einer mit Klaviermusik, und zwei Lieder CDs, enthält die Edition vier seiner Opern: Puntila, Leonce und Lena, Die Verurteilung des Lukullus und Einstein. Lediglich der Lanzelot (1969 auf einen Text Heiner Müllers) fehlt auch hier; fraglich, ob diese Gesellschaftskritik im Gewand eines Märchens damals überhaupt aufgenommen wurde. Unter den Orchesterstücken findet sich viel Staatskunst. Gedenk- und Feierwerke: Lenin, die Oktoberrevolution, der verstorbene Freund Brecht sind Bezugsgrößen (aber auch Mozart und Bach). Diese Orchesterwerke wurden vornehmlich in den 1960ern in Berlin und Leipzig von Otmar Suitner, Rolf Kleinert, Herbert Kegel oder Dessau selbst eingespielt. Es ist keine rückwärtsgewandte Musik, sondern Avantgarde, die immer auch ein Ohr im Westen in Donaueschingen und Baden-Baden, bei Blacher, Henze oder Nono hatte. „Die hier zusammengefasste Musik ist alles andere als farbloser sozialistischer Einheitsbrei nach Parteidoktrin“, heißt es im Begeleittext der Box – und das ist für diesen Teil unter musikästhetischen Aspekten durchaus richtig. Ideologisch gesehen kaum.
Die beiden Lieder-CDs kreisen im Wesentlichen um die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Peter Schreier, Annelies Burmeister, Sylvia Geszty, Siegfried Vogel und natürlich vor allem Gisela May gehören zu den Interpreten. Überzeugender ließ sich der deutsche Sozialismus nicht besingen, die Welt nicht verbessern. Vermutlich wollen heute nicht mehr alle Interpreten daran erinnert werden. Dass Dessau es vor allem in den Schauspielmusiken nicht schaffte, Kurt Weill für Brecht zu ersetzen, hört man auf diesen CDs auch. Hier ist die Ambition des Komponisten oft zu deutlich zu hören.
Im Grunde gilt das auch für die Opern, die im Rückblick auch als Suche nach einer Musiksprache und formalen Ästhetik für das nach 1945 immer weniger lebensfähige Genre Oper zu verstehen sind. Dessaus Musiktheatersprache findet zwar immer wieder zu starken Momenten, zerfällt aber in zu viele Details, wagt auch zu selten sich über das Wort zu erheben; besonders im von Dissonanzen und dodekaphonischen Strukturen geprägtem Puntila fällt das auf. Man hat – in Anlehnung an Brecht – en Begriff des Epischen dafür bemüht, das trifft es allerdings nur bedingt. Auch der mit Brecht geschriebene Lukullus, der 1951 in seiner ersten, vom ZK der SED verbotenen Fassung („volksfremd und formalistisch“) noch Das Verhör des Lukullus hieß und nach einer berühmt-berüchtigt gewordenen Formalismusdebatte überarbeitet werden musste und dann als Die Verurteilung des Lukullus zur Aufführung kam, ist heute vor allem ein Zeitzeugnis für die Durchsetzung der Maxime eines Sozialistischen Realismus in der Kunst der DDR denn alles andere. Er wurde 1964 selbstverständlich in der opportunen späteren Fassung aufgenommen. Der späte Einstein schließlich (UA 1974) ist mit seinen Techniken von bewusstem Zitat, Anspielungen, Referenzen und Collagen die vielleicht bis heute interessanteste Oper Dessaus geblieben. Postmodern könnte man sie nennen, auch wenn die Musiksprache über das von Schönberg und Berg einst Angestoßene nicht wesentlich hinauskommt. Auch hier gibt es eine Dramaturgie der Episode, Thesentheater, Gedankenmusik. – Wen soll das heute noch erreichen?
Auch die Opern-Interpretationen sind selbstverständlich mustergültige Studioproduktionen, die die Authentizität der Entstehungszeit atmen. Die Sängerbesetzungen sind ein Who’s Who der Ost-Berliner Opernjahre und im Grunde die jeweiligen Uraufführungssänger: Reiner Süß, Irmgard Arnold, Erich Witte, Annelies Burmeister, Martin Ritzmann, Eberhard Büchner, Carola Nossek, Peter Menzel, Peter Schreier, Theo Adam, Ingeborg Wengelor, Jutta Vulpius sind nur einige der mehreren Dutzend Interpreten, die in den personenreichen Opern Dessaus verewigt wurden.
Die 12 CDs geben einen guten Überblick über den DDR-Dessau, zeichnen damit aber auch ein recht enges Bild, vernachlässigt den ja durchaus international aufgeführten und im beständigen Austausch mit seinen westlichen und östlichen Kollegen stehenden Komponisten. Dass Dessau sich nicht als Staatskünstler verstand und auch kritische Haltungen zeigte, könnte man über dieser Auswahl fast vergessen. Das Beiheft ist spartanisch, allerdings findet man englischsprachige Liner Notes sowie die gesungenen Texte über die Webseite des Labels zum Download.
Moritz Schön
Paul Dessau Edition. Symphonie Nr. 2; Symphonische Adaption des Quintetts KV 614 von Mozart; In Memoriam Bertold Brecht; Bach-Variationen; Orchestermusik Nr. 2 „Sea of Tempests“; Orchestermusik Nr. 4; Klaviersonate F-Dur; 4 Guernica nach Picasso; Fantasietta Nr. 1; 9 Etüden; Begrüßung für Stimme, Flöte, Streichquartett; 42 Lieder; Puntila; Leonce und Lena; Die Verurteilung des Lukullus; Einstein. – Rundfunkchor Leipzig, Chor der Deutschen Staatsoper Berlin, Gruppe Neue Musik Hanns Eisler, Gewandhausorchester Leipzig, Staatskapelle Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Otmar Suitner, Rolf Kleinert, Paul Dessau u.v.a. (Brilliant Classics 9440, 12 CDs)