OPERNHAFT SAKRAL

 

Es gibt keinen Mangel an Einspielungen des beliebten Gloria RV589 von Antonio Vivaldi. Und doch ist es ähnlich wie bei Pergolesis Stabat Mater reizvoll, verschiedene Interpretationen zu kennen und zu vergleichen, denn beide Werke vereinen Sakralmusik, deren Theatralik opernhaft wirkt und bei der die Interpreten vor der Frage stehen, ob und wie sie Kontemplation und religiöse Inbrunst in weltliche Leidenschaft und Begeisterung sowie Zeremonie in Show übersetzen sollen. Vivaldi komponierte für jede Textpassage des Gloria einen eigenständigen Satz und schuf damit ein wunderbar melodiöses Werk, das hinsichtlich Affekten, Tempo, Tonarten, Metrik und Orchestrierung starke Kontraste zeigte. Dirigent Diego Fasolis steht als renommierter Experte für individuelle Ansätze, seine neue Vivaldi-Aufnahme ist beredt, eingänglich und stets anregend, ohne aufregend oder überraschend zu klingen. Die 25 Musiker seines Ensembles I Barocchisti spielen einen direkten, zupackenden Vivaldi – flink, ohne über die Maßen forsch zu sein, bspw. sehr schön in der melodiös ausgekosteten Einleitung mit Laute und Oboe zu „Domine Deus, Rex coelestis“. Es handelt sich um eine Studioaufnahme vom Juli und November 2016, der Detailreichtum bewegt sich im üblichen Rahmen guter Aufnahmen. Der Coro della Radiotelevisione Svizzera zeigt eine ansprechende Leistung, bspw. im spirituell hoffenden, von Traurigkeit durchzogenen „Et in terra pax“ oder dem lobpreisenden „Cum Sancto Spiritu“. Das Zugpferd der Neuaufnahme sind allerdings zwei Stars der Barockszene, die vor allem für virtuosen, ornamentierten sowie farbenreichen, ausdrucksstarken Gesang stehen und sich hier quasi einen stimmartistischen Wettbewerb bieten. Die junge Julia Lezhneva kann ganz schlicht klingen, um dann wieder bravourös zu jubilieren, sie kann in schattiertem Ausdruck flehen und ist dann wieder engelsgleich entrückt. Neben der solistischen Partie im Gloria singt sie noch das Nulla in mundo pax sincera RV 630, eine von ca. zwanzig erhaltenen Solo-Motetten Vivaldis. Es wirkt mit seinen Kontrasten ebenfalls opernhaft, beginnt friedlich, entwickelt sich bangend und strebend, um letztendlich bei der instrumental konzipierten Gesangslinie des Alleluia stimmartistisch alles zu fordern. Franco Fagioli singt auf der Höhe seiner Kunst: flexibel und agil, mit sicherer Höhe mit farbigem Fundament und seinem typisch individuellen Timbre. Das „Agnus Die“ ist gequält, das „Qui sedes ad dexteram Patris“ markant. Beide Stimmvirtuosen harmonieren und ergänzen sich im Duett „Laudamus te“. Fagioli übernimmt zusätzlich das Nisi Dominus RV607 – ein Psalm für die Marienvesper und ebenfalls mit deutlicher Dramatik mit einem von Fagioli gottesfürchtig beklommen „Cum Derit“, einem schwebenden „Gloria Patri, et Filio“ und dem kompliziert koloraturreichen „Amen“. Eine gute und ergänzende Aufnahme, die vor allem für Fans der beteiligten Künstler attraktiv ist (Decca 8125547). Marcus Budwitius