Novembriges

Die Schrecken des Jüngsten Gerichts, die in der Offenbarung des Johannes geschildert werden oder wie wir sie durch des Schuldknechts Weib in Hugo von Hofmannsthals Jedermann kennen –  „Und denkst nit an dein eigen Schuldbuch, das du mußt vor den Richter bringen, Wenns kommt zu den vier letzten Dingen?“ –  sind das Thema von Louis Spohrs Oratorium Die letzten Dinge. Mit seinem zweiten, am Karfreitag 1826 in Kassel uraufgeführten Oratorium stellte sich der hessische Hofkapellmeister Spohr in eine Reihe mit Händel, Haydn und Mendelssohn, ein Mittler zwischen Klassik und Frühromantik. Auf einen Schlag war er ein hochberühmter Mann. Den Gipfel seiner Popularität erreichte er 1843 mit Der Fall Babylons, der kürzlich in einer Braunschweiger Aufnahme von 2013 (Coviello Classics) den Interessierten wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. Im 20. Jahrhundert schwand Spohrs Bekanntheit rapide, seine Faust-Oper wird gelegentlich als Schlüsselwerk hochgehalten, seine Jessonda – einst ein Standardwerk – wohlwollend erwähnt, ohne dass die Versuche, an denen es nicht fehlte, zu einer Spohr-Wiederentdeckung führten. Die Werke sind keine dramatischen Würfe. Ich erinnere mich an eine mit Varady, Behle, Thomas Moser, Fischer-Dieskau und Moll prominent besetzte, aber sehr längliche konzertante Jessonda unter Geld Albrecht (bei Orfeo erschienen) in Hamburg. Von dramatischem Feuer sind auch Die letzten Dinge nicht durchlodert, aber es handelt es um eine geschmackvolle, gediegene Umsetzung der Spohr von Friedrich Rochlitz eingerichteten Bibel-Texte, die die Grundfragen der Menschheit berühren. Beide Teile des 75minütigen Werks werden durch eine ausgedehnte und wirkungsvolle Ouvertüre bzw. Sinfonie eingeleitet, die nicht ohne instrumentale Finessen sind, der Text ist sicher in Soli, Chöre und Rezitative gegliedert, wobei die Parts der Solisten unauffällig und schmucklos in das von Spohr für Laien konzipierte, bildhaft lebendige Chorgeschehen eingebetet sind. Spohrs Apokalypse ist eher tröstlich als bedrohlich.

Ivor Bolton tritt mit dem Mozarteumorchester Salzburg und dem Salzburger Bachchor als beredter Fürsprecher Spohrs auf. Ohne auf plakative Effekte zu schielen, schält er die dramatischen Momente mit sicherem Instinkt heraus. Die komplex verflochtene Musik bringt er mit rhythmischer Präzision und breit aufgefächerten Choreinwürfen zu großer Leuchtkraft, etwa im Höhepunkt Gefallen ist Babylon, an dessen bizarre Wildheit sich das versöhnliche Solistenquartett Selig sind die Toten anschließt. Für das vortreffliche Konzert am 6. Juni 2013 hatte sich Bolton ein hochrangiges Gesangsquartett aus treuen Anhängern ausgewählt: voran Sally Matthews, deren dramatisch ausgereifter lyrischer Sopran immer wieder über dem Geschehen leuchtet, dazu Katherine Goeldner mit einem fast schon zu gewichtigen Mezzosopran für die unaufwendige Aufgabe, den feinen Tenor von Jeremy Ovenden und den kernig interessanten Bariton von Andrew Foster-Williams.

Rolf Fath

 

Louis Spohr: Die letzten Dinge mit Sally Matthews, Katharine Goeldner, Jeremy Ovenden, Andrew Foster-Williams; Salzburger Bachchor; Mozarteum Orchester Salzburg; Leitung: Ivor Bolton; 2CD Oehms Classics OC 438