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Im deutschsprachigen Raum ist es üblich eine der zwei noch existierenden Passionen von Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Karfreitag zu hören; einige Kenner werden auch die Passionsvertonungen von Georg Friedrich Händel (1685-1759) und Georg Philipp Telemann (1681-1767) oder sogar das Oratorium „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Franz Joseph Haydn (1732-1809) als Musik für die Karwoche nennen.
Bachs Matthäus-Passion BWV 244 ist eines der am häufigsten aufgenommenen Oratorien der westlichen Musik: es gibt schon etwa achtzig Aufnahmen auf dem Markt (Stand: 20171). Die neue Aufnahme von Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon ist der Nachfolger von zwei Aufnahmen, die Harmonia Mundi schon veröffentlicht hat, eine ausgezeichnete Aufnahme unter der Leitung von Philippe Herreweghe (1998) und eine weitere von René Jacobs (2013). Bei Warner Classics gibt es die Referenz für historisch informierte Aufnahme von Concentus Musicus Wien und dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt aus dem Jahre 2000 mit Solisten wie Christine Schäfer, Dorothea Röschmann, Bernarda Fink und Matthias Goerne.
Sowie Harnoncourt geht es auch bei Pichon um den Dialog zwischen den zwei Chören und Orchestern, wie Bach es vorgibt. Die Musiker, der Dirigent und die Solisten bieten eine transparente, lebendige und zügige, aber nicht übereilte Interpretation an. Die Aufnahme ist bemerkenswert, weil historische Instrumente verwendet wurden, um eine Klangpalette zu erzeugen, die raffiniert und modern klingt. Ein zentrales Merkmal von Bachs Genie, so Pichon in dem Heft beiliegenden Interview, sei es, die Passion auf eine persönliche Art und Weise zu erzählen, die die Menschlichkeit der Figuren hervorhebt und so das Publikum unmittelbar in das Geschehen einbezieht.
Pichons Tempi, Ausdrucksweise und Gefühl für Dynamik passen logisch zum Thema und emotionalen Inhalt, so dass die Musik und die Erzählung die Zuhörer in die Tragödie einbeziehen und die Spannung in dieser bekannten Geschichte aufrechterhalten, obwohl der Ausgang von Anfang an bekannt ist. Der Höhepunkt dieser Aufnahme ist die Sopranarie „Blute nur, du liebes Herz“, gesungen von Hana Blažíková mit emotional Intensität, Trauer und Herzeleid. Als Muttersprachler artikuliert Julian Prégardien den Evangelisten mit Klarheit und ausreichenden emotional Engagement. Sabine Devieilhe und Lucile Richardot nutzen ihre attraktive Stimmen, um ihre jeweiligen Arien technisch einwandfrei darzubieten und gleichzeitig Gefühle der Sympathie zu vermitteln.
Tim Mead hat eine gewöhnungsbedürftige Altstimme, die für mich eine meiner Lieblingsarien „Können Tränen meiner Wangen“ ruiniert. Diese Arie kann den emotionalen Tiefpunkt dieses Oratoriums vermitteln, wenn sie von den richtigen Sängern mit Leidenschaft gesungen wird. Einige Beispiele hierfür sind Christa Ludwig unter der Leitung von Otto Klemperer, Julia Hamari unter der Leitung von Karl Richter und Elisabeth von Magnus in der o.g. Harnoncourt Aufnahme.
Die Mitwerkenden haben eine gute Leistung erbracht, und teilweise anderen historisch informierten Tonaufnahmen entweder sehr nahe gekommen (wie z.B. die zwei Einspielungen, die John Eliot Gardiner vorgelegt hat) oder sie gar übertroffen (wie z.B. die zehn Jahre alte Aufnahme von René Jacobs). Pichon wäre sehr empfehlenswert, wenn es nicht so viele Alternativen gäbe; die Konkurrenz ist einfach zu groß. Wenn ich diese Aufführung auf der Bühne erlebt hätte, dann wäre ich zufrieden, aber eine Aufnahme ist für wiederholtes Hören gemeint. Um bei einem solchen unglaublichen Wettbewerb ganz vorne zu stehen, müssen alle Solisten absolut erstklassig sein.
Das 112-seitige Beiheft enthält das vollständige Libretto mit englischen und französischen Übersetzungen, einen Gespräch über die große Passion sowie Schwarzweiß-Fotos der Musiker. Die Titelliste bietet nur den Stimmtypus für jede Arie. Im Gegensatz beinhaltete das Textheft bei der o.g. Harnoncourt Aufnahme eine Titelliste, die nennt welche der Solisten (z.B. Sopran 1 oder Sopran 2) singt, sowie einen wissenschaftlichen Aufsatz von Wolfgang Sandberger. Wer das Oratorium nicht auswendig kennt und sich auf die Informationen stützt, die mit der Pichon Aufnahme geliefert werden, muss eine Kopie der Partitur besitzen, um zu wissen wer welche Arie singt.
Wie viele Aufnahme von dem gleichen Werk, egal wie großartig es ist, sind notwendig? Diese rhetorische Frage stellt sich weil Plattenfirmen weiterhin eine kleine Auswahl von Repertoire immer wieder produzieren mit einer daraus resultierender Flut redundanter Aufnahmen, die nur selten etwas über das Werk enthüllen, das nicht bereits bekannt war. Selbstverständlich wenn neu entdeckte Primärquelle von bisher ungehörter Musik verfügbar wären, wäre eine Aufnahme (wie z.B. die 2008 veröffentlichte Ausgabe der 1742 Fassung gespielt von die Dunedin Consort unter der Leitung von John Butt) begehrenswert. Denselben Inhalt immer wieder aufzunehmen ohne neue Erkenntnise ist nicht nur überflüssig sondern auch langweilig und verschwenderisch.
Ich frage mich, warum Pichon selten gespieltes Repertoire, wie z.B. einen großen Teil von Telemanns Vermächtnis oder Werke von Christoph Graupner (1683-1760) und Jan Dismas Zelenka (1679-1745) nicht aufgenommen hat; er hätte uns damit ermöglicht, Musik, die wertvoll aber schwierig zu finden ist, zu entdecken. Pichon und sein Ensemble verfügen über ein großes Potenzial, die Vielfalt des Repertoires zu erweitern. Wir können nur hoffen, dass sie diese Gelegenheit bei ihrer nächsten Aufnahme wahrnehmen werden (Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion mit Julian Prégardien, Stéphane Degout, Sabine Devieilhe, Lucile Richardot, Christian Immler, Pygmalion, Raphaël Pichon; harmonia mundi musique 3 CDs HMM 902691.93). Daniel Floyd