Man muss nicht alles haben. Sicherlich haben ehrgeizige Sammler die beiden deutschen Oratorien Der Kampf der Buße und Bekehrung von Johann Michael Haydn von 1768 und Der Fall Babylons von Louis Spohr aus dem Jahr bislang vermisst. Das erste ist Teil eines größeren Werkes, an dem mehrere Komponisten arbeiteten. „1768 war der Salzburger Erzbischof Sigismund von Schrattenbach zusammen mit drei Sängerinnen von einer Italienreise zurückgekehrt. Der Salzburger Hof bereitete ihnen ein freundliches Willkommen, da die Frauen ihre Ausbildung im musikalischen Zentrum der Welt und besonders der italienischen Oper genossen hatten: in Venedig. Für ihre Rückkehr nach Salzburg wurde eine Komposition benötigt, die ihnen die Möglichkeit gab, ihre Begabungen und Fähigkeiten zu demonstrieren. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit sprachen sich drei Komponisten am Hof für eine Zusammenarbeit aus, und jeder von ihnen vertonte einen Teil des Oratorienlibrettos Der Kampf der Buße und Bekehrung des Rechtsgelehrten Johann Heinrich Drümel“. Neben Anton Cajetan Adlgasser und Johann David Westermayer vertonte Joseph Haydns Bruder Johann Michael Haydn, zweiter Kapellmeister am Hof, den mittleren Teil des eigens für diesen Anlass verfassten Traktats. Auch wenn sich in dem Werk hinreichend italienische Zutaten und Figuren und auch barocke Einsprengsel finden, wirkt es weitgehend floskelhaft, ein Eindruck, der auch durch die wackere, im Mai 2009 in Budapest entstandene Aufnahme mit dem Orfeo Orchestra und Purcell Choir unter György Vashegyi nicht wesentlich begünstigt wird. Auffallend das pathetisch-großartige Recitativo accompagnato, in dem Christus (Elisabeth Scholl) die Qualen des Jüngsten Gerichts beschreibt.
Aufregender geht es in Spohrs zweiteiligem Oratorium zu, das auch im Rahmen seines London-Aufenthaltes 1843 erklang, wo Spohr auf dem Höhepunkt seines Ruhmes mehrere Tage hintereinander durch Konzerte eigener Werke geehrt wurde. England hatte Spohr erstmals 1820 besucht, doch wurde er dort zunächst als Geiger geschätzt, bevor er ab den 1830er Jahren durch Aufführungen seines Oratoriums Die letzten Dinge auch als Komponist verehrt wurde. Der Fall Babylons, Spohrs letztes Oratorium, wurde 1842 beim Norwich Festival uraufgeführt, dessen Initiator Edward Taylor den Text in Anlehnung an Händels Belsazar schrieb. Den englischsprachigen Text seines Freundes Taylor ließ sich Spohr vor der Vertonung vom Kasseler Obergerichtsanwalt Friedrich Oetker in Deutsche übertragen: im Mittelpunkt steht die Idealgestalt einer jungen Frau aus dem Volk, der fast zur Nebenfigur degradierte Belsazar trägt dagegen Züge von Spohrs Dienstherrn, dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm I von Hessen-Kassel, während der persische Krieger Cyrus als kluger und bescheidener Herrscher gezeichnet ist. Bestimmend ist die stringente Anlage des aus großen Blöcken, Chor-Solisten-Szenen, bestehenden Werkes, das in der Braunschweiger Aufführung aus dem Dezember 2013 als Erstveröffentlichung vorliegt. Mit dem KonzertChor Braunschweig und dem Staatsorchester Braunschweig gelingt Matthias Stanze, Präsident der Braunschweiger Louis-Spohr-Gesellschaft, eine Aufführung, die erkennen lässt, weshalb das Werk als „Das größte Werk seit Händel“ gefeiert wurde. Der günstige Eindruck ist auch den Sängern, Solisten des Staatstheaters Braunschweig, zu verdanken, des herrisch starr agierenden Rossen Krastev als Belsazar, des sauber singenden Bassisten Dirk Schmitt als Cyrus, des zart-feinen Daniel-Tenors von Matthias Stier, des gepflegten Soprans von Ekaterina Kundryavtseva als Jüdin und der würdevollen Anne Schudt als Königin-Mutter Nictoris. Vorbildlich das Beiheft mit dem Beitrag von Hartmut Becker.
Rolf Fath
Johann Michael Haydn: Der Kampf der Buße und Bekehrung: Sylvia Hamvasi (Gnade), Elisabeth Scholl (Christ), Tünde Szaboki (Weltmensch u.a.; Purcell Choir; Orfeo Orchestra; Leitung: György Vashegyi, Carus 83.351
Louis Spohr: Der Fall Babylons: Ekaterina Kundryavtseva (Eine Jüdin), Anne Schuldt (Nicoris), Rossen Krastev (Belsazar), Dirk Schmidt (Cyrus); KonzertChor Braunschweig; Staatsorchester Braunschweig; Leitung: Matthias Stanze; 2 SACD Coviello Classics COV 91406