Die erste Bekanntschaft mit Verdi bescherte mir ein Querschnitt durch seine Oper Aida. Mein Bruder hatte die Platte zu Weihnachten geschenkt bekommen. Die wurde sofort aufgelegt. Und ich – fast noch ein Kind – durfte mithören. Es war nicht nötig, mich zu Ruhe und Stillsitzen zu verpflichten. „O wäre ich erkoren!“, schmetterte es durch die Heilige Nacht. Ich wusste nicht genau, was das bedeuten sollte. Erkoren? In der Kleinstadt in Thüringen, wo ich meine ersten Jahre verbrachte, war niemand und nichts erkoren. „Leiser“, rief mein Vater und verpasste meinem frühen Erwachen für Opernmusik einen gehörigen Dämpfer. Meine Mutter vermittelte. Sie hatte die Platte ausgesucht, kannte das Werk und hatte es auf der Bühne gesehen. Sie war unser Opernführer, der als Buch im Haus nicht vorrätig war. Viel später gelangte die alte Platte auf CD. Jetzt findet sie sich in der Edition Oper auf Deutsch, erschienen bei Deutsche Grammophon (483 7295). Insgesamt wurden fünfzehn Werke berücksichtigt. Den Radames singt Sandor Konya. Ihm habe ich also meinen ersten, bewusst wahrgenommenen Ton von Verdi zu verdanken. Das begründet Treue und Dankbarkeit, obwohl ich längst andere Tenöre in dieser Rolle bevorzuge. Der strahlende Ton von Konya aber ist mir unvergessen geblieben. Hat sich regelrecht eingebrannt im Gedächtnis. Er ist immer sofort herauszuhören, eine Eigenschaft, die ich fortan bei allen Sängern suchte, so unverwechselbar ausgeprägt wie bei Konya aber nur selten fand. Konya schluchzte so schön, was meiner eigenen Sentimentalität entgegenkam. Ich entdeckte, dass man bei Musik auch heulen darf. Gloria Davy als Aida, Cvetka Ahlin als Amneris und Paul Schöffler als Ramfis. Nur Hans Hotter, der Amonasro, sagte mir schon etwas. Meine Mutter, die ihn in Hamburg als Don Giovanni gehört und gesehen hatte, kam aus dem Schwärmen nicht heraus. Ich wunderte mich, weil er so sang, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund. Diese freche Bemerkung brachte uns nicht näher. 1961, als die Aufnahme unter der Leitung von Argeo Quadri entstand, hatte er seine besten Jahre hinter sich.
Nach Jahrzehnten wiedergehört, finde ich immer noch etwas von jener Atmosphäre wieder, die mir die Ohren für Opernmusik geöffnet hat. Arien, Duette und Chorszenen – einschließlich Triumphmarsch – sind so geschickt zusammengestellt, dass sich die Handlung in großen Zügen erschließt. Vor allem aber deshalb erschließt, weil in deutscher Übersetzung gesungen wird. Insofern haben diese mehrfach aufgelegten Opernquerschnitte der Edition einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur musikalischen Volksbildung geleistet. Sie bescherten Generationen ihre erste Begegnung mit Oper, gaben Anstöße fürs Leben.
In den 1960er Jahren war an Internet, in dem sich alle möglichen Informationen über Komponisten, ihre Werke, Sänger, Dirigenten oder komplette Libretti abrufen lassen, nicht zu denken. Ein paar Klicks und schon weiß man auch nach sechzig Jahren alles über diesen 1961 erstmals veröffentlichten Querschnitt. Es ist nicht zu hoch gegriffen, in dieser Sammlung ein wichtiges Kapitel deutscher Operngeschichte zu sehen, das sich über die nostalgischen Erinnerungen erhebt, die der eine oder andere mit einzelnen Titeln verbindet. Den Ungarn Sandor Konya (1923-2003) singt die mit Abstand meisten Tenorrollen in der Edition. Bei Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es ihn nach Deutschland verschlagen, wo er die Sprache lernte und seine Ausbildung absolvierte. Debütierte hat er 1951 in Bielefeld als Turiddu in Cavalleria rusticana von Mascagni. Damit ist er auch in den mit Leoncavallos Bajazzo gekoppelten Szenen, in denen er der Canio gibt, zu hören. Seine Sopran-Partnerinnen sind wieder die Davy (Santuzza) und Anny Schlemm (Nedda). Walter Berry singt Alfio und Tonio. Am Pult steht Janos Kulka. Eine Stärke Konyas ist seine Vielseitigkeit, die ihm eine enorme Popularität einbrachte. Selbst in Bayreuth machte er als Lohengrin, Parsifal, Walter von Stolzing, Froh und Junger Seemann umjubelte Station. Mit seinem typischen Schmelz in der Stimme führt er Offenbachs Hoffmann noch weiter weg vom Original als es durch die Übersetzung ohnehin geschieht. Die Amerikanerinnen Mattiwilda Dobbs (Olympia) und Gladys Kuchta (Giuletta) sowie die Tschechin Hedi Klug (Antonia) sind für ihre Aufgaben auch nur bedingt zu gebrauchen, während Ruth Siewert der Stimme der Mutter die Magie schuldig bleibt. Interessante kernige Akzente in der von Richard Kraus geleiteten Produktion setzt der noch junge Thomas Stewart als Lindorf, Coppelius und Dappertutto. Er ist auch der Nabucco in der Szenenfolge durch diese Verdi-Oper, die Horst Stein betreute. Seine Frau Evelyn Lear singt die Fenena, während sich der früh verstorbene Martti Talvela in der Rolle des Zacharias mit seinem flexiblen Bass als ausgesprochener Schönsänger in Erinnerung bringt. Einen gewissen Seltenheitswert hat sich die Aufnahme bis heute durch die Mitwirkung von Liane Synek bewahrt. Meist im hochdramatischen Fach tätig, ist sie fast ausschließlich durch Livemitschnitt dokumentiert. Auf der Bühne konnte sie ihren dramatischen Instinkten offenbar jenen freien Lauf lassen, der sich im Studio, wo es auf Genauigkeit ankommt, verbietet. Deshalb hinterlässt sie nicht den herausgehobenen Eindruck, den sich Opernbesucher, die sie noch in Aufführungen erlebten, bewahrt haben. Für Konya, der den Ismail sing, fallen das Terzett mit den beiden Damen und die Chorszene „Sagt, wer rief mich hier in dunkler Nacht“ ab.
Kein originärer Opernquerschnitt ist Puccinis La Bohème. Die Szenen wurden – wie einst auch bei anderen Firmen verbreitete Praxis – einer Gesamtaufnahme entnommen, die wenige Monate vor dem Bau der Mauer in der DDR, nämlich in Christuskirche in Oberschöneweide entstand. Es handelt sich um eine deutsch-deutsche Gemeinschaftsproduktion, für die der Westen die Solisten, der Osten den Kinderchor der Komischen Oper, den Chor der Staatsoper, die Staatskapelle Berlin und die Aufnahmetechnik beisteuerte. Wieder trägt Konya als Rodolfo in entscheidendem Maße dazu bei, den Deutschen ein auf Empathie beruhendes Puccini-Bild einzupflanzen. Viele Jahrgänge von Opernfreunden litten mit ihm in seiner aussichtslosen Liebe zur totkranken Mimi (Pilar Lorengar), mit dem eiskalten Händchen. Auf den Besetzungszettel der Sammlung tauchen auch Namen von Sängern auf, die in ihren Stammhäusern sehr beliebt waren und bei international Eindruck machten, auf den Musikmarkt aber viel zu kurz kamen. So einer ist Klaus Bertram, der sich als Collin von seinem alten Mantel trennt, damit Medikamente für Mimi gekauft werden können. Er baut die Wirkung der berühmten Szene auf liedhafte Schlichtheit und erzieht gerade dadurch die größte Wirkung. Der Bassbariton gehört ein Vierteljahrhundert zum Ensemble der Staatsoper Stuttgart. Neben dieser Bohéme existiert nur noch eine weitere offizielle Opernaufnahme – ein Querschnitt durch Verdis Troubadour mit Bertram als Ferrando. Er wurde ebenfalls für die Grammophon produziert, in der Edition aber leider nicht berücksichtigt.
Verehrern des Tenors Ernst Kozub dürfte die Neuerscheinung doppelt willkommen sein. Sie enthält zwei Opernquerschnitte, die es bisher noch nicht auf CD geschafft hatten: Carmen und Rigoletto, 1962 erstmals veröffentlicht. Die Platten waren nur noch antiquarisch zu finden, kommen aber klanglich nicht an die CD-Qualität heran. Kozub, 1924 geboren und bereits 1971 gestorben, galt als große Hoffnung, ohne dass er die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllen konnte. Er hätte der bedeutendste deutsche Heldentenor der Nachkriegszeit werden können. Der Dirigent Georg Solti glaubte an ihn und setzt ihn schon 1955 bei seiner Zauberflöte für den Hessischen Rundfunk als Tamino ein. 1962 wünschte er ihn sich für seinen Wiener Studio-Ring als Siegfried. Kozub reiste aber nur unzureichend vorbereitet an und musste durch den gestandenen Wolfgang Windgassen ersetzt werden. Als José und Herzog fasziniert er – ganz typisch für ihn – mehr durch die Fülle seines verschwenderischen Materials als durch in die Tiefe gehende Gestaltung. Hinter glanzvoller stimmlicher Kulisse bleiben die Figuren blass. Dennoch war er kein Blender. Er konnte nicht anders. Marcel Gouraud legt als Carmen-Dirigent am Pult ein flottes Tempo vor, ohne die Solisten vor sich her zu treiben. Rosl Schwaiger ist die Micaela, Franz Crass der Escamillo, und Gisela Litz versucht sich in der Titelrolle als Femme fatale. Der von Horst Stein energisch dirigierten Rigoletto-Querschnitt mit Dietrich Fisch-Dieskau in der Titelrolle bewahrt auch die Stimme von Gisela Vivarelli mit abgedunkelter Höhe als Gilda. Die 1926 geborene schweizerische Koloratursopranistin hatte sich bereits 1964 aus gesundheitlichen Gründen von der Bühne zurückgezogen.
Als Komponist dominiert Verdi die Edition. Mit La Traviata – Hilde Güden ist als Violetta und Fritz Wunderlich als Alfred besetzt – sowie Die Macht des Schicksals mit Stefania Woytowicz als Leonore und Jess Thomas als Alvaro kommt er auf fünf Titel von fünfzehn. Beide Male ist auch Fischer-Dieskau – Georg Germont und Don Carlos – mit von der Partie. Profi durch und durch und gewöhnlich auf glanzvollem Parkett und Festivals unterwegs, war sich dieser Sängern neben anderen berühmten Kollegen nicht zu schade, den Verkaufserfolg populärer Massenprodukte wie diese Querschnitte durch seine Mitwirkung zu fördern. Mit der Edition, die solche Titel konzentriert anbietet, wird auch dieser Aspekt deutlicher als bei der Betrachtung einzelner Veröffentlichungen, die mit zeitlichem Abstand auf den Markt gelangten. Dass Fischer-Dieskau, von dem noch mehrfach die Rede sein wird, auch bei der Hochzeit des Figaro in Erscheinung tritt, versteht sich fast von selbst. Es war ein gesuchter Graf und ist als solcher in rund zehn Aufnahmen und Mitschnitten überliefert. Seine Gräfin ist die liebenswerte Maria Stader, die ihre damals sechsundfünfzig Jahre nicht verleugnen kann, die Susanna Rita Streich, der Cherubin Hanny Steffek und der Figaro Walter Berry. Die Leitung der Berliner Philharmoniker hat Ferdinand Leiter. Mignon von Ambroise Thomas hat es immerhin auf drei Querschnitte in deutscher Sprache gebracht, die Einspielung mit dem Pariser Orchestre des Concerts Lamoureux ist eine davon. Die französischen Musiker und ihr Dirigent Jean Fournet garantieren ursprüngliches Flair. Wie damals nicht unüblich wurde gleichzeitig ein Querschnitt in der Originalsprache produzierter mit Jane Berbier statt Irmgard Seefried in der Titelrolle, Mady Mesplé statt Catherine Gayer (Philine), Gérard Dunan statt Ernst Haefliger (Wilhelm Meister) und Xavier Depraz statt Kieth Engen (Lothario). „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Stimmlich ist die Seefried genau richtig, wenngleich sie 1963 im Vergleich mit ihren frühen Jahren etwas matter klingt. Goethes „Wilhelm Meister“ als literarische Vorlage dürfte das Seine getan haben, dem Werk bei den Deutschen – zumindest zeitweise – zu überdurchschnittlicher Beliebtheit zu verhelfen.
Was ist noch im Angebot? Mit Eugen Onegin und Tiefland zwei Titel, die auf deutschen Bühnen nicht wegzudenken waren. Die Tschaikowsky-Oper hatte es bereits 1962 sogar ins deutsche Fernsehen geschafft. Wer die Übertragung aus München kennt, sieht noch immer Fritz Wunderlich als introvertierten Lenski auf der leeren Bühne vor sich. In einen Mantel gehüllt, sieht er mit seiner großen Arie „Wohin seid ihr entschwunden“ mit dunklen Ahnungen dem Duell mit seinem Freund Onegin entgegen. Er hat auch optisch das Bild des sensiblen Dichters geprägt. Für die Grammophon gab er also gar keine andere Wahl, ihn im Querschnitt zu besetzen. Er sollte dessen Veröffentlichung 1967 nicht mehr erleben, Wunderlich starb bereits 1966 bei einem Unfall. Wie schon im TV ist auch die junge Brigitte Fassbaender als Olga mit dabei. Tatjana wird von Evelyn Lear gegeben, Gremin von Martti Talvela und Onegin von Fischer-Dieskau. Musikalischer Leiter ist Otto Gerdes, der dirigierende Grammophon-Musikproduzent, der vor allem durch seine Tannhäuser-Aufnahme mit Birgit Nilsson als Venus und Elisabeth in Erinnerung blieb. Für Marta in D‘Alberts Tiefland ist Inge Borkh mit ihrem tragischen Ton in der Stimme eine ideale Besetzung. Obwohl ihr im Querschnitt die wichtigsten Szenen geblieben sind, verzehrt man sich nach einer Gesamtaufnahm. Der Verzicht erscheint heute als vertane Chance, zumal Hans Hopf als Pedro und Thomas Stewart als Sebastiano auch die Erwartungen an die männlichen Hauptrollen erfüllten.
Übersichtlich ist die Diskographie des Dirigenten Reinhard Peters, der 2008 in Berlin gestorben ist. Mit der Stadt war er zunächst durch sein Wirken an der Staatsoper im Osten und später an der Deutschen Oper im Westen eng verbunden. 1964, das neue Haus an der Bismarckstraße war seit drei Jahren eröffnet, gelangte der Querschnitt durch Rossinis Barbier von Sevilla in den Handel. Peters dirigiert das Orchester der Deutschen Oper. Leicht geht ihm das nicht von der Hand. Er rückt das Werk über weite Strecken stilistisch zu sehr in die Nähe deutscher Spielopern. Nur allzu ergeben folgen ihm in dieser Lesart Rita Streich (Rosina), Ernst Haefliger (Almaviva), Ivan Sardi (Bartolo), Kim Borg (Basilio) und auch Raimund Grumbach als Figaro. Und wenn deutsche Spieloper, dann doch bitte das Original. Das findet sich in Gestalt von Zar und Zimmermann in der Edition. Als Sachwalter dieser noch immer unterschätzten Gattung bringt sich der Dirigent Hans Gierster am Pult der Bamberger Symphoniker, die auch sehr tüchtige Opernmusiker sind, in Erinnerung. Ob Fischer-Dieskau als Zar die trefflichste Besetzung ist, darf hinterfragt werden. Man nimmt ihn nicht ganz ab, dass er auf der Werft selbst „zur Axt“ greift. Friedrich Lenz als Peter Iwanow ist da schon rollendeckender eingesetzt, Karl Christian Kohn als van Bett auch. Für Ingeborg Hallstein ist die Marie richtig – und Wunderlich gibt als Marquis von Cháteauneuf ein so kurzes wie glanzvolles Gastspiel. Das Lied „Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen“ ist ihm wie in die Kehle komponiert.
„Verschwundene Kostbarkeiten“ überschreibt der Publizist und Stimmenkenner Jürgen Kesting seinen Booklet-Text zu den historischen Opernquerschnitten in deutscher Sprache. „Sie sind im Verlauf der Jahre, ungeachtet der oft exzellenten Ensembles aus den Katalogen verschwunden …“ Sie seien als „nicht idiomatisch“ verworfen worden. „Man mag heute allerdings die Gegenfrage stellen“, so Kesting weiter, „ob in vielen der heutigen Einspielungen von den Stars aus den Vereinten Nationen des globalisierten Opernbetriebs wirklich in der Originalsprache gesungen wird.“ Zu hören sei wohl ehr die jeweilige Verkehrssprache, in der nicht viel mehr hergestellt wird als ein „Sound“, der vage an Französische erinnere, nicht zu reden vom Russischen. Rüdiger Winter