Die Klaviermusik führt ein Schattendasein im Werk von Richard Strauss. Sie kann mit den Opern, den Orchesterwerken und den Liedern nicht mithalten. Wie auch? In der Regel handelt es sich um ganz frühe Kompositionen. Die Schneider-Polka hat sich der Siebenjährige unter den strengen Augen und Ohren des Vaters ausgedacht. Sie gilt als sein Erstling. Die Einfälle sind simpel, die musikalische Ausführung einfach und übersichtlich. Immerhin sind es Einfälle, die dem Kind zufliegen. Ein Langsamer Satz, der ein Jahr später entstand, geht schon tiefer. Eindrücke erster Opernbesuche von Freischütz und Zauberflöte fließen ein. Immer deutlicher tritt das Talent hervor. In den Stimmungsbildern von 1882 – Auf stillem Waldespfad, An einsamer Quelle, Intermezzo, Träumerei und Heidebild – unternimmt der Achtzehnjährige respektable und bereits ziemlich wirkungsvolle Gehversuche als Tonmaler. Damit erreicht eine noch unvollständige Edition bei Dynamic ihren künstlerischen Höhepunkt: Complete Works for Piano. Bisher sind Vol. 1 (CDS 7695) und Vol. 2 (CDS 7748) heraufgekommen, eine dritte CD soll noch folgen.
Es spielt der Italiener Dario Bonuccelli. Für dasselbe Label hat er bereits sämtliche Klavierwerke von Richard Wagner eingespielt. Natürlich ist Bonuccelli nicht der erste Pianist, der sich der Klaviermusik von Strauss annimmt. Schon Glenn Gould hat beispielsweise die Sonate Opus 5 von 1881 für sich entdeckt und aufgenommen. Bei Naxos nahm sich Stefan Veselka einige frühe Stücke vor. Bonuccellis Verdienst ist es, die Klavierkompositionen in der Reihenfolge ihres Entstehens zu dokumentieren. Für sich genommen ist das schon verdienstvoll genug, weil Nachschlagewerke wie das Richard-Strauss-Handbuch (Metzler/Bärenreiter) diesen Teil des
Gesamtwerkes nur in Worten beschreibend darstellen können – und nicht in Tönen. Jetzt kann sich, wer will, hörend ein eigenes Bild machen. Ich hatte meine Freude an den Aufnahmen. Nach meinem Eindruck akzeptiert Bonuccelli diese jugendlichen Erfindungen wie sie sind. Er belässt ihnen die Unvollkommenheit und Spontanität, die Naivität. Mit pianistischer Meisterschaft macht er seinen Zuhörern nichts vor, was nicht ist. Wohl aber nimmt der Pianist, der auch selbst komponiert, den jungen Strauss sehr ernst, indem er herauszufinden versucht, wo und wie sich Meisterschaft ankündigt. Auf der Homepage von Bonuccelli wird der Kritiker Roberto Iovino in der großen italienischen Tageszeitung La Repubblica zitiert: „Dario Bonuccelli, Jahrgang 1985, zeichnet sich schon seit langem durch seine solide Vorbildung und sein bemerkenswertes musikalisches Wissen und Technik aus. Er ist ein vollkommener Musiker, der die Partitur erkunden … kann. Seine Vorträge sind sorgfältig vorbereitet…mit eleganten Phrasierungen, einem flexiblen Klang, einer guten Singbarkeit…”
Es wäre wünschenswert gewesen, die einzelnen Stücke der besseren Übersicht halber gleich in den Track-Listen mit Jahreszahlen und nicht nur mit den TrV-Nummern zu versehen. TrV steht als Abkürzung für den Musikwissenschaftler Franz Trenner (1915-1992), der sich intensiv mit Strauss beschäftigte, Briefwechsel herausgab und ein chronologisches Werkverzeichnis erstellte. Auf die noch ausstehende CD darf man gespannt sein. Rüdiger Winter