Es ist an die zehn Jahre her, dass Preiser mit der Carmen von Elisabeth Höngen überraschte. Für eine österreichische Firma war das Ehrensache. Diese Sängerin wurde an der Wiener Staatsoper vergöttert wie eine Heilige. Da fiel es nicht sonderlich ins Gewicht, wenn die Aufnahme aus dem fernen Dresden stammte. Zumal auch noch Karl Böhm dirigierte. Schließlich hat die Höngen die Rolle auch in Wien gesungen, zwischen 1944 und 1955 sage und schreibe dreiunddreißigmal. Das ist vergleichsweise viel. Böhm hingegen, der ein Gespür für die Dramatik des Werkes hatte, stand in Wien 1944 nur noch bei vier Vorstellungen am Pult. In Dresden wählte er gedehnte Tempi, die es ihm ermöglichten, Steigerungen und Höhepunkte besonders wirkungsvoll aufzubauen. Sängern, einschließlich Chor, kommt das sehr entgegen. Schon das Vorspiel wirkt wie ein Kondensat seines musikalischen Konzepts. Lange vor Preiser hatte BASF 1973 eine Schallplatte mit Szenen veröffentlicht. Wenn sich aber Profil Edition Günter Hänssler mit einer neuen Folge aus der Semperoper Dresden meldet, können die Ersten schnell die Letzten sein, wenigstens aber auf die Plätze verwiesen werden. Hörte sich die Preiser-Ausgabe schon sehr gut an, punktet Hänssler mit den originalen Bändern. Als würde sich der Vorhang tatsächlich heben. Der Klang ist in Tiefe und Breite gestaffelt, entfaltet sich also räumlich. Stereophonie ist schon zum Greifen nahe. Wenn gleich zu Beginn die Straßenjungen ausmarschieren, kommt ihr Gang über die Bühne der Wirklichkeit nahe. Überhaupt sind die großen Ensembleszenen von großer Klarheit und nie übersteuert. Hänssler bietet mit seiner Carmen (PH16076) mehr als nur ein beliebiges Tondokument.
Ein deutsch gesungene Carmen dürfte nicht unbedingt das Ereignis sein, nach dem man sich 2021 verzehrt. Höngen hin oder her. Mit dieser Edition aber wird ein spannendes Kapitel Musikgeschichte beleuchtet. Das macht die Neuerscheinung aus. Beigaben in Form von Texten, Biografien und Fotos wachsen sich zum kleinen Buch aus, das zudem noch sehr sinnlich gestaltet ist. Beigesteuert werden Erinnerungen von Gertrud Döhnert, der persönlichen Mitarbeiterin von Böhm in seiner Dresdener Zeit, die sogar seine Briefe öffnen durfte. Nichts anderes war zu erwarten. Wenngleich man gern ein anderes Datum lesen würde – die Oper wurde am 4. und 5. Dezember 1942 mitgeschnitten. Ein größerer Widerspruch zwischen Kunst auf der einen und politischer Wirklichkeit auf der anderen Seite ist kaum vorstellbar. Während also Carmen auf der Bühne behauptete, dass „die Liebe von Zigeunern“ stamme, tobte der von Hitlerdeutschland entfesselte Krieg an allen Fronten. Die Ermordung der europäischen Juden war beschlossene Sache. Und der Untergang Dresdens nicht mehr weit, wenngleich zum damaligen Zeitpunkt unvorstellbar.
Im Booklet wird auf den Abdruck des Librettos in der weithin bekannten Übersetzung durch den Österreicher Julius Hopp (1819-1885), der auch komponierte, verzichtet. Das ist nicht weiter schlimm, weil man eh jedes Wort versteht und für alle Fälle gewiss eine alte Reclam-Ausgabe vorrätig hat. Noch Christa Ludwig sang 1961 auf den Text für ihre Einspielung bei der Electrola. Wer sich also auf den Mitschnitt einlässt, Vorbehalte zurückstellt und die Aufnahmen in der Originalsprache oder in der ursprünglichen Fassung als Opera comique im Schrank lässt, erlebt ein Wunder an gesanglicher Akkuratesse. Diese musikalische Genauigkeit, diese Deutung von einzelnen Wörtern, Gesten und Gedanken durch die Höngen vollzieht sich ganz unabhängig von der Partie. Sie hätte auch Orlofsky oder Herodias singen können. Die Wirkung würde wohl dieselbe sein. Kein Ton wird vereinzelt herausgestellt. Sie verbindet Noten und Text zu einer in sich geschlossenen Kette als ob sie im jeweiligen Moment schon das erfasst, was erst noch komme und was schon hinter ihr liegt. Dies geschieht mit Leichtigkeit und ohne jede Anstrengung. Stimmlich ist sie ideal. Niemand, der ihr zuhört, käme auf die Idee, dass Singen Schwerstarbeit und höchste Konzentration ist. Was sie von sich gibt, ist nicht die zehnte Wiederholung im Studio, um es besser und noch besser zu machen. Es ist faktisch live. Im Freundeskreis kursiert eine Anekdote aus Wien. Dort blieb eine Sängerin als Azucena hinter den Erwartungen im Publikum zurück. Darauf ein Besucher: „Jetzt fehlt mir aber die Höngen.“ Viele Jahre konnte ich mit diesem Seufzer nichts anfangen. Nun verstehe ich ihn. Diese Sängerin – sie lebte zwischen 1906 und 1997 – ist für ihre Zeit gut dokumentiert. Im unmittelbaren Vergleich schneiden die Aufnahmen für mich sehr unterschiedlich ab. Kaum eine erreicht das in sich geschlossene Niveau der Dresdener Carmen.
Die anderen Mitwirkungen haben es nicht leicht gegen sie, obwohl sie sich nicht zu verstecken brauchen. Allen voran die lyrische Elfriede Weidlich als mütterliche Micaela, die bis 1950 eine der Lieblinge des Dresdener Publikum auch als Susanna, Zerline oder Mimi gewesen ist. Danach verließ sie die 1949 gegründete DDR und wirkte fortan in Hannover. Torsten Ralf, der schwedische Tenor, der 1935 nach Dresden kam und drei Jahre später den Apollo in der Uraufführung der Daphne von Strauss sang, erfüllt als Don José alle Anforderungen, die an einen lyrischen Heldentenor gestellt sind. In Dresden genoss er Kultstatus weit über seine Zeit hinaus. Das ging so weit, dass Peter Schreier, der ihn auch verehrte, seine Söhne die Vornamen Torsten und Ralf gab, wie im Booklet zu erfahren ist. Der 2019 verstorbene Tenor hatte die Schirmherrschaft über die Semper-Oper-Edition. Auch in der neuen Folge wird er in dieser Funktion noch genannt. Bemerkenswert ist, wie Ralf die unterschiedlichsten Situationen, in die die Figur gestellt ist, stimmlich erfasst und anrührend gestaltet. Als Sergeant auf der Wache gibt er den Macho, im Zusammentreffen mit Micaela ist er der liebevolle Sohn, der sich um die Mutter sorgt, gegenüber Carmen überwindet er anfängliche Scheu, um sie schließlich ohne jede Rücksicht für sich zu verlangen. In seinem Besitzanspruch kann er das Wesen dieser Frau nicht verstehen. Er, der schon einmal unbeherrscht getötet hat, muss auch sie töten. Josef Herrmann – auch er in Dresden hoch geehrt – ist 1942 noch im Vollbesitz seiner Stimme. Darauf verlässt er sich und unternimmt keine nachhaltigen Versuche, in die etwas eindimensionale Rolle mehr gestalterisches Profil zu investieren. Noch ist Elfride Trötschel die Frasquita. 1949 wird sie die Micaela sein. Und das ist auch nachzuhören. Die Hänssler-Edition hält neben der Gesamtaufnahme eine Bonus-CD mit eigenem ebenfalls verschwenderisch ausgestatteten Booklet bereit. Drauf finden sich neben vielen anderen historischen Dokumenten drei Szenen aus einer Produktion des Mitteldeutschen Rundfunks unter der Leitung von Hans Löwlein, mit der die Wiederaufnahme der Oper im Jahr 1950 in Dresden begleitet wurde. Mehr ist nicht erhalten. Dabei wurde auch schon für die Aufnahme eine Anregung des Musikwissenschaftlers Ernst Krause aufgegriffen, Carmen in der neuen Übersetzung des Intendanten der Komischen Oper Berlin, Walter Felsenstein, einzustudieren. Fragte Jose Micaela bisher, „Wie? Du kommst von der Mutter?“, will er nun in Gestalt von Heinz Sauerbaum wissen, „Wie geht’s meiner Mutter?“ Klanglich kann es die Aufnahme des kompletten Werkes im Opernhaus mit der Studioeinspielung allemal aufnehmen. Direkt vor die Mikrophone gestellt, können die Sänger jedoch nicht annähernd die Bühnenatmosphäre erzeugen.
Steffen Lieberwirth, Projektleiter und Spiritus Rector der Edition, hat die besonderen technischen Gegebenheiten im Booklet dargestellt und uns seinen Beitrag freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wofür wir danken: Die vorliegende Carmen-Gesamtaufnahme von 1942 ist rundfunktechnisch ein zukunftsweisendes Pionierdokument aus der Frühphase der Tonbandaufzeichnung im Reichsrundfunk: Beginnend mit dem Jahr 1942 war die technische Entwicklung von Bandmaschinen so weit gediehen, dass sie sich als hochgeeignet für den Rundfunkeinsatz erwiesen und in den folgenden Jahren von allen Funkhäusern angeschafft werden konnten. In den Reichssendern Dresden und Leipzig lösten sie schnell die bisherigen Plattenschneider ab, lagen doch gleich mehrere Vorteile der sogenannten HF-Magnetophone auf der Hand: Der Leiter der technischen Labore der Reichsrundfunkgesellschaft, Hans-Joachim von Braunmühl, schwärmte 1942 in seinem Bericht an die Rundfunkredakteure von den Vorzügen der zukunftsweisenden Technik. Nach jahrelangen Versuchen konnte er endlich vermelden, dass das neue „Magnetophon im Rundfunkbetrieb aus der Forderung der Programmgestaltung nach einem die Möglichkeiten der Schallplatte übersteigenden Verfahren“ entwickelt worden sei, „welches einerseits alle Ansprüche für höchstwertige musikalische Aufnahmen erfüllen kann und andererseits in transportabler Ausführung den Sendungen des Zeitgeschehens ganz neue Möglichkeiten bietet“. Mitten im Zweiten Weltkrieg wurden nun Schritt für Schritt alle deutschen Funkhäuser mit den modernen Magnetophonen ausgestattet und die Maschinen im Sendebetrieb erfolgreich eingesetzt. Weil bisher in einer Sendeabwicklung längere Musikwerke nur von Schallplatten abspielbar waren, standen alle drei bis vier Minuten heikle Plattenwechsel mit Überblendungen an. Sendungen von Magnetband waren hingegen vergleichsweise erholsam: 20 Minuten Spieldauer dürften für jeweils einen Sinfonie-Satz oder eine größere Opernszene ausgereicht haben. Kein Wunder also, dass die Magnetophon-Bänder die bisher eingesetzten Schallplatten zügig aus dem Sendeablauf verdrängten.
Begeistert waren gleichermaßen Rundfunkredakteure wie Radiohörer auch von dem klanglichen Quantensprung der Tonbandaufnahme und deren natürlicher Wiedergabe. Das störende Plattenknistern gehörte damit ein für allemal der Vergangenheit an. Fieberhaft wurde in den Musikredaktionen nach Aufnahmemöglichkeiten und Werkvorschlägen für den neuen Tonträger „Tonband“ gesucht. Vorrangig wurde auch das Dresdener Opernhaus bedacht. So fiel die Wahl einer Tonbandaufzeichnung mittels nagelneuer Technik auf unsere Dresdner „Carmen“-Neuinszenierung im Dresdner Opernhaus mit Karl Böhm am Dirigentenpult. Beeindruckend – weil szenisch überzeugend wiedergegeben – ist auch die ausgeklügelte räumliche Mikrophonierung der Rundfunkaufnahme: So sind beispielsweise die Trompeten-Signale der aufmarschierenden Soldaten „Schnell herbeigestürmt, wie’s Wetter“ dank geschickter Ausnutzung verschiedener Standorte im Saal und auf der Bühne oder der Auftritt des Don José mit seinem Lied „He, Holla! Halt! Wer da“ aus den Tiefen der Hinterbühne äußerst effektvoll umgesetzt und werden in der Semperoper zum raumakustischen Erlebnis. Respekt vor dieser Pionierleistung der damaligen Toningenieure! Dem angestrebten Klangbild entgegen, kamen auch die Mitte der 1930er Jahre beim Rundfunk eingeführten rauscharmen „Neumann-Kondensatormikrophone“ (auch „Rundfunkflaschen“ genannt). Dank deren sensibler Membranen gelangen erstmals Aufnahmen mit zufriedenstellender Richtwirkung und Klangballance sowie eine praktikablere Platzierung im Aufnahmeraum. Für die Aufzeichnung der Dresdner „Carmen“-Inszenierung wurden 1942 mehrere dieser damals hochmodernen Mikrophone auf der Bühne, im Orchestergraben und im Zuschauerraum des Dresdner Opernhauses installiert. Rüdiger Winter
Die dramatische Schlussszene der Oper Carmen fand auch ihren Niederschlag in den Liebig-Bildchen die einst so populär waren wie die Oper selbst. Diese Sammelbilder wurden Produktpackungen von Liebigs Fleischextrakt beigefügt, benannt nach dem deutschen Chemiker Justus von Liebig.