Zur Ausgabe bei The Intense Media: Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ging von Deutschland ein in der europäischen Kulturgeschichte einmaliger, grauenhafter Versuch der Vernichtung künstlerischer und moralischer Werte in bis dahin unvorstellbarem Maße aus. Literatur, Wissenschaft, bildende Kunst und Musik in all ihren Ausprägungen fielen dem Rassenwahn vom einzig wertvollen „Ariertum“ zum Opfer. „Schmutz und Schund“ nannte Propagandaminister Goebbels die nun verbotenen Werke, deren Urheber künftig nicht einmal mehr genannt werden durften. Viele Namen sind deshalb der jüngeren Generation fremd oder werden nicht in Verbindung mit nationalsozialistischer Verfolgung gebracht. Bereits 1928 hatte sich ein „Kampfbund für deutsche Kultur“ gegründet, und auch für die Nationalkonservativen war nach dem verlorenen 1. Weltkrieg deutsche Musik eine ihrer letzten Bastionen. In ihrem Kampf gegen alles „Undeutsche“ sahen sie schon im Wort „Jazz“ eine Provokation. Die Grundlage für massenhafte Verbote und Verfolgung bildete aber erst das am 7. April 1933 erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es schloss Nicht-Arier, Kommunisten und andere, „denen eine Unterstützung des nationalen Staates ohne Vorbehalte nicht zugetraut werden kann“, von der Stellenvergabe aus. Es ordnete an, alle, „die nicht arischer Abstammung sind, in den Ruhestand zu versetzen“. Die im November 1933 gegründete Reichskulturkammer mit ihren Einzelkammern für Literatur, Radio, Theater, Musik und Film hatte die Einhaltung der neuen Gesetze zu überwachen. Die Mitgliedschaft war Pflicht für alle Berufsgruppen. Der Ausschluss oder die Verweigerung der Aufnahme kamen einem Berufsverbot gleich.
Auf den hier zusammengestellten 10 CDs machen die kurzen biographischen Angaben zu den Beteiligten deutlich, welche oft unfassbaren Folgen die rigorose Anwendung dieser Gesetze hatte. Die schillernd aufblühenden kulturellen Entwicklungen der rückblickend so spannend erscheinenden „goldenen zwanziger Jahre“ wurden abrupt gestoppt und vielfach zerstört. Für Verleumdung und Denunziation öffneten sich Tür und Tor. Dabei halfen Buchveröffentlichungen wie das „Handbuch der Judenfrage“ von Theodor Fritsch (Hammer-Verlag, Leipzig 1935) und das „Lexikon der Juden in der Musik“, bearbeitet von Dr. Theo Stengel in Verbindung mit Herbert Gerigk, dem Leiter der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP. In diesen Büchern finden sich u.a. die Namen Goldmark, Halévy, Korngold, Mahler, Mendelssohn Bartholdy, Meyerbeer, Saint-Saents, Schönberg, Weill, Weinberger und Zemlinsky ebenso wie Abraham, Eysler, Fall, Hollaender, Kaiman, Nelson, Offenbach, Spoliansky und Straus. Von Stolz und Benatzky heißt es „…sind wohl Arier, unterscheiden sich aber in nichts, was die Qualität ihrer Produkte angeht, von den genannten Juden“. Und an anderer Stelle: „Lehár und der jüdisch versippte Künneke beziehen ihre Texte fast ausschließlich aus jüdischen Händen“. Im November 1934 schrieb das Reichskultusministerium an die NS-Kulturgemeinde in Halle: „Die von Lehár vertonten Texte entbehren, von Juden geliefert, jeglichen deutschen Empfindens“.
Die einzelnen Titeln dieser CD-Kollektion angefügten Ergänzungen lassen erkennen, in welchem kaum glaublichen Ausmaß gerade die Gruppe der Textdichter der Verfolgung ausgesetzt war. Kaum weniger erschreckend ist die Namensliste jener Dirigenten, Sänger und Instrumentalisten, die vor dem Nazi-Regime fliehen mussten und mehr noch jener, die als Juden, Homosexuelle oder als Gegner des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern gequält und umgebracht wurden. Noch in der letzten Ausgabe des „Lexikon der Juden in der Musik“ war zu lesen: „Die Namen der ,Größen‘ aus der Zeit vom Weltkriegsende bis zur Neuordnung des Reiches sind versunken. Sie sind sogar so gründlich vergessen, dass beim zufälligen Wiederauftauchen eines solchen Namens mancher sich kaum entsinnen wird, dass es sich um einen berüchtigten, früher viel genannten Juden handelt“. Der Untergang des „Dritten Reiches“ hat verhindert, dass sich diese Voraussage jemals erfüllen können (TIM).
Die bei The Intense Media nun vorliegende 10-CD-Box mit originalen „entarteten“ Musikbeispielen vor und noch aus der Nazi-Zeit gliedert sich sehr übersichtlich in einzelne Sparten, was das Hören erleichtert, was in den einzelnen Bezeichnungen der Rubriken auch mal Stirnrunzeln hervorruft, weil man da die Anführungsstriche auch vermisst. So ist die erste CD mit Kulturbolschewismus eben ohne solche tituliert, gefolgt von Kabarett/Chanson, Lockere Sitten, Die große Freiheit, Schlager und Film, (viel) Operette, Oper, Konzert. „Kulturbolschewismus“ (was ja doch wohl ein Fascho-Zitat ist, hoffe ich) beinhaltet Bekannte wie Brecht/Weill mit den alten Aufnahmen aus der Dreigroschenoper (Hans Sommer, Kurt Gerron, Lenya, Neher) aber auch das „Stempellied“ mit Ernst Busch. Jeder einzelnen Nummer ist eine mehrzeilige boigraphische Kurz-Einleitung mit Aufnahme-Datum etc. vorangestellt, die Auskunft gibt, warum dieser jeweilige Künstler, Begleiter oder Komponist in dieser Sammlung enthalten ist – auch dies eine wirklich gute editorische Tat. Meine Favoriten wie Kate Kühl, Curt Bois und natürlich die wunderbare Trude Hesterberg finden sich in der „riskanten Abteilung“ der Großen Freiheit, wo sich auch Gitta Alpar rumtreibt und Max Ehrlich die „Mädis vom Chantant“ 1930 besingt. Namen über Namen, Perlen wie an einer Kette, vieles bekannt und manches überraschend (und eben nicht das offensichtliche nur wie Marlene D.), so wie Paul O´Montis „Ich bin verrückt nach Hilde“ von 1929. Gott, was waren das für tolle Texte – dieser Witz, dieses Zwinkern, diese frivolen Respektlosigkeiten. Ganz seltenes wie Paul Graetz/“Das ist der Herzschlag, der zusammenhält“ von 1920 steht da neben Waldorffs „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“, mehr von Ebinger und Busch, Massary natürlich, Dolly Haas. Mein Favorit ist Lucie Mannheim mit dem „Lied vom Nazisoldaten“ (mit Mischa Spoliansky 1944 in London aufgenommen, was eigentlich eine eigene Ausgabe der Exillieder verdient hätte und worunter dann auch mehr von Weill gefallen wäre).
Und genau da sind wir bei den organisatorisch/nomenklatorischen Problemen, weil sich verbotene Künstler mit „genehmem“ oder umgekehrt viele „genehme“ Künstler mit verbotenem Material mischen. Unter der Rubrik Oper findet man natürlich Halévy und Meyerbeer mit deutschen Barden (die nicht verboten waren und dazu natürlich in Aufnahmen vor der Machtergreifung). Da wäre mir die Einteilung in „entartete“ Komponisten als solche und vebotene/verfolgte/vertriebene/ermordete Künstler als solche lieber gewesen, so geht´s ein wenig durcheinander. Und es finden sich eben auch akut Systemstützende wie Rühmann, Harvey und Fritsch mit Liedern von Komponisten (wie hier Heymann/“Die drei von der Tankstelle“), die später vertrieben wurden. Das ist verwirrend und für mich anfechtbar. In manchen Fällen muss man zweimal lesen, warum das einzelne mit eingeschlossen wurde: Heinrich Schluss, bei Gott kein Widerstandskämpfer, singt Schuberts „An die Musik“ von 1928, aber der Clou ist eben Franz Rupp am Klavier, der 1938 nach Amerika emigrieren musste. Immerhin gibt´s Mahler, Hindemith, Kreisler. Aber um Serkin und Busch miteinzuschließen nur den 2. Satz aus Schumanns Klaviersonate op. 105 zu bringen, scheint mir allerdings sehr bemüht und „abgestrickt“.
Dennoch, diese 10 CDs sind ein deprimierendes Kompendium an Namen und Persönlichkeiten, die im 3. Reich nicht gelitten waren, umgebracht wurden oder doch noch gerade entkommen konnten. Weigert und Busch, Elisabeth Schumann und Lotte Lehmann, Tauber und Spoliansky, Strawinsky und Schulhoff, Schönberg und Mahler, Delia oder Max Reinhardt, Kipnis und Schorr, Jansen und Scheidl, Armbrust und Mira, Dietrich (aber auch mit „Allein in einer großen Stadt“ von 1932) und Ebinger – eine Legion, deren Vernichtung (eben auch im öffentlichen Nachkriegsbewusstsein) ein akutes Ausbluten des deutschen Geistes- und Kunstlebens bedeutet. Bis heute kann man sagen, weil namentlich in der Klassischen Musik dieses Auslöschung zum akuten Bruch des Publikums mit seinem zeitgenösssischen Musikleben geführt hat. Entwicklungen wie die Darmstädter Schule, die Neuntöner etc. wären bei einer Kontinuität nicht so passiert, wie man ja in den USA sieht, wo zeitgenössische Kompositionen von Argenta oder Glass die Säle füllen und eben nicht das Publikum verschrecken/ spalten. Weills Kompositionen aus Frankreich und Amerika sind bei uns immer noch so gut wie unbekannt. Die Amputation am deutschen Kunstleben ist ebenso brutal gewesen wie folgenschwer. Deshalb ist dieses 10-CD-Kompendium um so empfehlenswerter, weil es uns kursorisch an unsere reiche musikalische Vergangenheit erinnert und uns – gut aufgefächert – „hörbar“ nahebringt. Die vielen „Stolpersteine“ auf dem Cover erschrecken zu Recht (10 CD, The Intense Media 600252; Foto oben The Intense Media/Ausschnitt/Günter Demnig)! Stefan Lauter