„Was aber will das Publikum?“ fragt der ehemalige Soziologie-Professor der Düsseldorfer Uni Karl-Heinz Reuband, der sich in einem der zwölf Beiträge des von ihm herausgegebenen Sammelbands Oper, Publikum und Gesellschaft unter dem Thema „Erneuerung der Oper aus dem Geist der Moderne“ speziell mit den Begriffen Regietheater und Werktreue auseinandersetzt (Springer VS, 392 Seiten). Diese und andere Fragen zur Zusammensetzung und Altersstruktur des Publikums, das, wir haben es geahnt, überaltert ist, zu zukunftsträchtigen Formen und Erwartungen auch hinsichtlich der Regieformen beantwortet der nicht ganz günstige Band auf oftmals unerwartete Weise. Die oftmals trockenen und mühsam zu lesenden, von fleißigen Studenten zusammengetragenen Tabellen und Auswertungen kann man dabei getrost überblättern. Verkörpert das Regietheater, wobei sich die Befragungen vor allem auf die Verlagerung der Handlung in die Gegenwart konzentrierte, die Moderne, erfüllt es die ästhetisch-kulturellen Bedürfnis der Zuschauer und zieht es, wie vielfach behauptet, tatsächlich ein jüngeres Publikum an? Das Ergebnis ist, so zufällig die Vorgehensweise und fehlerhaft die über einen langen Zeitraum und in unterschiedlichen Städten getroffenen Auswertungen auch hinsichtlich des Stellenwerts, den die Besucher der Inszenierung am Gesamteindruck beimessen, auch sein mag, ist einigermaßen überraschend – oder auch nicht. Selbst lange Erziehungsprozesse, wie beispielsweise seit der Liebermann-Ära in Hamburg, haben nicht „notwendigerweise zu einer breiteren Akzeptanz“ des Regietheaters geführt. „Der Gegenwartsbezug begründet nicht per se ein Interesse an einer Aufführung“. Das Regietheater hat das Opernpublikum weder geöffnet noch verjüngt, sondern es vergrößert eher „die soziale Spaltung des Opernpublikums“ als dass es sie verringert, „Es bewirkt genau das Gegenteil von dem, was es proklamiert oder ihm als Eigenschaft zugeschrieben wird: Der Opernbesuch könnte in manchen Zuschauererkreisen sogar durch das Regietheater geradezu an sozialem Distinktionspotenzial gewonnen haben: … wegen der komplexen Narration auf der Ebene der Inszenierung, welche Dechiffrierungsleistungen und Sinnzuschreibungen erfordert“. Im Gegensatz oder in Ergänzung dazu hält Udo Bermbach („Politik, Gesellschaft und Oper im 20. Jahrhundert“) dagegen, „In solcher Vielfalt der Aufführungsstile spiegelt sich die Vielfalt der Gesellschaft und ihrer potenziellen Bedürfnisse wider. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Kapital der Oper auch für die Zukunft, das allerdings auch Verpflichtungen“ hinsichtlich der Pluralität der Stile, der Regisseure und des Spielplans mit sich bringt. Inhalte müssen vermittelt werden, „welche die sinkenden Wissensvoraussetzungen des heutigen Opernpublikums kompensieren können, durch vielfache technische wie inhaltliche Hilfestellungen ….“.
Soziale Distinktion spielte bereits in den „Saalschlachten in Oper und Konzert in Großbritannien des 19. Jahrhunderts“ (Sven Oliver Müller) eine Rolle, wo sich soziale und politische Ungleichheit in der Kennerschaft einer aristokratischen Elite manifestierte, die ihre Logen als privaten Raum betrachtete und exklusive Rechte in Anspruch nahm. Ein Verhalten, das sich in den Ritualen der Konzertreihen oder unter leidenschaftlichen Opernanhängern, die ästhetische Besitzstände verteidigen, erhalten hat. Die Frage, ob Oper und klassische Musik ihren Status als Distinktionsgut verloren hat und an ihre Stelle der Konsum vielfältiger Musikrichtungen getreten ist (Debora Eicher und Katharina Kunißen: „Hochkulturelle Musik in grenzüberschreitenden Geschmackskombinationen“), ist ebenso interessant wie die Feststellung, es “ist davon auszugehen, dass der Alterungsprozess des Klassikpublikums zunächst weiter voranschreitet, ohne das dies als Misserfolg der Bemühungen – gemeint sind die Programm für Kinder und Jugendliche – verstanden werden muss“ (Reuband „Das Kulturpublikum im städtischen Kontext“). Das ist wenig überraschend.
Mit Freude liest man den Beitrag über die „Entwicklung des Zeitungsfeuilletons“, in dem Günter Reus und Lars Harden akribisch belegen – freilich anhand einer gewissen Auswahl von Zeitungen – dass trotz Auflagenschwunds und Online-Konkurrenz das klassische Feuilleton und die Kulturberichterstattung, anders als möglicherweise erwartet, keineswegs im Niedergang begriffen sind. Eine Boulevardisierung und Auszehrung hat in den Allzuständigkeitsfeuilletons der Qualitätszeitungen nicht stattgefunden, allenfalls eine Zunahme der ambivalenten Kunstberichte. „Anders, als Rezensenten selbst vielfach glauben“ – auch ich hatte das angenommen – „legt das Publikum bei der Lektüre von Rezensionen keineswegs den größten Wert auf das Urteilsvermögen professioneller Beobachter. Weit wichtiger ist ihm, dass Journalisten über zusätzliche Informationen verfügen und sie dem Publikum auch bereitstellen“. „Am wichtigsten sind dem Opernbesucher Aussagen über die Leistungen der Sänger (sehr wichtig: 57%) und“ – das hätte ich nicht vermutet – „die Handlung/ das Bühnengeschehen („das worum es geht“, 55 %)“. Die Anforderungen an Opernkritiken untersuchten Wolfgang Schweiger und seine Studenten („Opernkritiker – geheime Verführer oder entfremdete Elite?“), wobei wir erfahren, dass eine Kritik keine Auswirkung auf den Publikumszuspruch hat – klar, die Bayerische Staatsoper ist zu über 90 % ausgelastet – sich nur maximal 15 % der Lesenden nicht der Meinung der Kritikers anschließen und „die Nutzung von Opernführer und -kritik als Kulturtechnik bei den jüngeren Besuchern seltener wird.“ Spannend zu lesen, auch wenn sie sich nicht logisch in den Aufbau des Bandes fügen, fand ich Fritz Trümpis Ausführungen zum Wiederaufbau der Wiener Staatsoper, die dokumentieren, wie die Hilfeleistungen und Geldflüsse von amerikanischer und sowjetischer Seite letztlich keine Erwähnung mehr fanden und die Wiedereröffnung der Staatsoper zu einer alleinigen Leistung des österreichischen Volkes stilisiert wurde. Rolf Fath