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Als Nicht-Brite und Musikliebhaber sitzt man staunend vor dem gewichtigen Kompendium von Kurt Gänzl:Victorian Vocalists (nicht Singers – hat das eine Bedeutung? „Nein“, sagt der Autor, „klingt nur „classier“ und alliteriert sich schön…“), das gerade im Londoner Routledge Verlag in Englisch erschienen ist.746 Seiten und 106 Sänger (wenn ich richtig gezählt habe) der Viktorianischen Epoche des Britischen Musiktheaters im weitesten Sinne werden hier vorgestellt, viele mit Abbildungen, so die bekannte Opernsängerin Louisa Pyne im Federkostüm. Wie kann ein einziger Autor das alles schaffen?
Nun, Kurt Gänzl (bei beibehaltenem – ä – mit österreichisch-ungarisch-jüdisch-schottischen Wurzeln in Neuseeland zu Hause) gilt seit Jahren als die unumstrittene Autorität auf dem Gebiet der britischen Musikszene, des Vaudeville, Burlesque-Theatres und Dance-Hall-Geschäftes der Viktorianischen Epoche. Es gibt wenig, was er über die leichte und schwere Muse des Königreiches (und des Commenwealth einschließlich) im 19. Jahrhundert nicht weiß. Das schlägt sich in diesem unglaublichen Universal-Lexikon der Viktorianischen Klein- und Großkunst nieder. Dabei beschränkt sich die Behandlung nicht auf rein britische Künstler – wer hat je von Mathilde Bauermeister, Giovanni Battista Belletti, Luise Liebhart, Charles Guilmette, Emile Gaveau-Sabatier und anderen gehört? Wohl aber von Julie Dorus-Gras, Enrico Campobello, Louisa Pyne oder Giuseppe Ciampi und manchen Kollegen, die dem Interessierten aus anderen Bereichen und anderen Regionen Europas oder Amerikas auch von den alten Schellacks im Ohr klingen. Einigen Damen fehlt auch der Vorname, wie das bei Sängerinnen der Epoche üblich war. Allen diesen widmet sich Kurt Gänzl akribisch, trägt Details und manchmal auch amüsante Anekdoten über deren Leben zusammen. Man sitzt wirklich staunend über diesem dicken Wälzer, der auf schönen roten Einband Maria Palmieri als eine Vertreterin ihrer Zunft zeigt. Dies ist ein Buch zum Blättern, zum Kichern, zum sich Wundern – auf jeden Fall zur Hand zu haben, wenn man sich mit dieser Epoche beschäftigt – ganz wunderbar. G. H.
„Victorian Vocalists“ ist eine meisterhafte und unterhaltsame Sammlung von hundert Biographien von Sängern und Stars des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts. Kurt Gänzl zeichnet ein lebendiges Bild der viktorianischen Opern- und Konzertwelt. Er enthüllt die Hintergründe, Reisen, Erfolge, Misserfolge und sogar auch das Fehlverhalten dieser Sänger. Dieser Band ist nicht nur ein hervorragendes Nachschlagewerk für alle, die sich für Vokalisten dieser Epoche interessieren, sondern auch ein fesselndes, akribisch recherchiertes Lebensbild im riesigen Haifischbecken, welches die Viktorianische Musik war.
Kurt Gänzl ist einer der wichtigsten Chronisten der Weltgeschichte der Musik und des Theaters. Seine zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema umfassen The Encyclopedia of the Musical Theatre (1994, 2001), The British Musical Theatre (1986), The Musical: A Concise History (1997), Gänzl’s Book of the Musical Theatre (1988) und Biographien von Künstlern wie Lydia Thompson (2002), Willie Gill (2002) und Emily Soldene (In Search of a Singer, 2007).
Dazu der Autor Kurt Gänzl mit einem Wort an den Leser: Dies ist eine Sammlung von hundert neugierig machenden Artikeln über einige der interessantesten Sänger des viktorianischen Zeitalters, in oder aus Großbritannien, den Kolonien und Europa.
Die hundert sind Teil einer Sammlung von (bis heute) etwa 900, die ich in den letzten Jahren zusammengetragen habe, einfach für die Erkenntnis und das Amüsement meiner selbst und meines Zirkels von sehr wissbegierigen, musikgeschichtlich interessierten Freunden. Im Verlauf unserer verschiedenen Schriften und Nachforschungen sind wir – ja, ich insbesondere – auf so viele Leute gestoßen, deren Namen uns wenig sagte, und auf so viele Leute, deren Namen wir zwar kannten, aber deren Geschichten (wie im Showbusiness typisch) in Zeitungen, Büchern und natürlich dieser Tage im Internet verfälscht wurden. Also beschloss ich, dass ich in meinen zurückgezogenen und etwas kränklichen Jahren etwas gegen diese Situation unternehmen wollte. Ich bin jetzt seit zehn oder zwölf Jahren voller wackliger, Ein-Finger-Schreibmaschinenarbeit dabei …
Aber natürlich, wie Andrew Lamb, mein ältester und klügster Freund unter den Musikwissenschaftlern, sagte: „All diese Arbeit – und wenn du tot umfällst, ist alles verloren.“ So entschied ich mich, nach einigem Schrecken, meine Gesundheit betreffend, dies zu veröffentlichen – zumindest mit einigen „meiner Leute“. Alle davon würden eine Menge an Bänden füllen.
Man könnte einige dieser Materialien unerträglich detailliert finden. Nun, manche Leute sammeln Briefmarken, Pokemons oder CDs. Ich sammle Fakten. Und in der modernen Art der Biographie schreibe ich die meisten, wenn nicht alle auch nieder. Man kann die Teile überspringen, die einen nicht interessieren, aber sie könnten genau diejenigen Teile sein, die einen anderen interessieren. Das ist zumindest meine Ausrede. Es ist für jeden etwas dabei.
Ich weise hier oftmals auf die Fehler in der Arbeit anderer Autoren hin. Das ist keine Sturheit. Ich möchte, dass man weiß, dass ich deren Versionen von „Fakten“ gesehen habe und sie mit den Originalquellen abgeglichen habe (oftmals zu beträchtlichen Kosten) – und dass sie falsch sind. Die halbe Arbeit daran sicherzustellen, dass man die korrekten Informationen liefert, ist es zu vermeiden, dass man die falschen erhält. Ach, viele Übersetzer der Referenzwerke, Ersteller von Aufnahmedetails und Programmzetteln, Autoren von Biographien und dergleichen kopieren nur allzu gerne „Fakten“ aus Werken wie Fétis, Grove, dem Dictionary of National Biography, dem erschreckenden Brown and Stratton, dem furchtbaren Baker, deren europäischen Entsprechungen oder einigen Zeitungs- und Werbeartikeln, die über das Internet immer und immer wieder reproduziert wurden. Somit sind die Lügen und Fehler aufrechterhalten worden. Daher fliege ich wie der heilige Georg auf seinem Drachen zur Rettung der schönen Jungfrau, der Wahrheit. Das ist erstaunlicherweise oftmals spaßiger als diese Lügen!
Ich behaupte nicht, perfekt zu sein – gut, nicht ganz. Es gibt Lücken. Ich kann nicht mehr auf der Suche nach Informationen durch die Welt reisen, wie ich es getan habe. Meine Schweden, Portugiesen und Ungarn sind grimmig. Und ja, ich nicke manchmal ein. Man neigt dazu, wenn man die siebzig überschritten hat. Ich sage nur (lacht), dass ich genauer bin als jeder andere bisher. In fünfzig Jahren, wenn die Recherche von zu Hause noch einfacher geworden ist und Google Books diese sinnlosen „Schnipsel“ eliminiert hat, wird sich wahrscheinlich jemand meine Arbeit ansehen und sagen: „Oh, Gänzl … soooo unvollständig!“ Nun ja, ärgerlich (für mich), ich bin eben manchmal unvollständig. Wenn ich ein paar tausend Pfund hätte, um damit herumzuwerfen, könnten zum Beispiel viele der Geburts- und Sterbedaten durch Bezahlung für Zertifikate verifiziert werden. Vielleicht werden in der nächsten Generation alle öffentlichen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit frei und kostenlos zur Verfügung gestellt. Aber bis dahin müssen Sie sich mit meinen kleinen Ungenauigkeiten, wenn nicht Unkorrektheiten, begnügen! Und ich hoffe, dass die Wissenschaftler der Zukunft meine Artikel als Grundlage für ihre weitere Forschung nutzen werden. Dieses Buch ist mir einfach eine Herzensangelegenheit, um die maximale Menge an Informationen, die ich mit meinen Mitteln während eines Jahrzehnts des Ausgrabens zusammentragen konnte, verfügbar zu machen.
Jede Sammlung oder „Enzyklopädie“ (was, denke ich, die kompletten 900 [Biographien] wären) muss sich entscheiden, wer hineinkommt und wer weggelassen wird. Abgesehen davon, wenn es einen guten Grund gab, habe ich (außer durch Missgeschick oder dergleichen) diejenigen Künstler ausgelassen, zu denen es bereits eine komplette Biographie gibt. Ja, ich weiß, einige dieser Biographien sind ein wenig – oder sogar sehr – „haarig“, und die Autobiographien sind üblicherweise „selektiv“ in dem, was sie uns erzählen. Und beide sind häufig (mein Kriegsschrei!) inkorrekt. Aber wenn sich jemand die Mühe gemacht hat, ein ganzes Buch zu schreiben … Tut mir leid, aber da kann ich mit einem einfachen Artikel nicht mitbehalten. Außer zu sagen „dies ist falsch, das ist falsch“, was ein langweiliges Spiel ist.
Am wichtigsten jedoch ist, dass es definitiv keine „Hitparade“ ist – weder die 900 noch die Auswahl, die ich für dieses Buch getroffen habe. Es behauptet nicht, „dies sind die besten“ oder sogar „die erfolgreichsten“ Sänger der viktorianischen Ära. Es sind schlicht und ergreifend hundert Leute, denen ich bei meinen langen, langen Spaziergängen durch die Welt der Musik und des Theaters des 19. Jahrhunderts begegnet bin, die meine Phantasie angeregt und mich zu weiteren Ausgrabungen inspiriert haben. Weil sie nun eine großartige Karriere hatten, bisher unbeachtet waren oder ein buntes Leben führten, innerhalb oder außerhalb der Musik … es ist einfach: Wenn mich jemand fasziniert, ist er dabei! Wenn nicht, dann eben nicht! Zumindest nicht, bis wir bei Band 10 angelangt sind. Es ist ein eher schnelles Bild eines Querschnitts der viktorianischen Sängerszene und ihrer Künstler. Erfolgreich, weniger erfolgreich und manchmal lächerlich erfolglos.
Also versuchen Sie es – sie sind nur in alphabetischer Reihenfolge, weil … na ja, was sonst? –, und bitte: Sollten Sie ein verlorenes Grab oder eine fehlende Taufe finden, lassen Sie es mich wissen. Alle Kopien von Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden würde ich sehr dankend erhalten. Und falls Sie innerhalb dieser kleinen Ansammlung nicht denjenigen viktorianischen Vokalisten gefunden haben, der Sie besonders interessiert, haben Sie keine Scheu, mit mir in Kontakt zu treten. Es gibt Aberhunderte mehr davon.
Aber genießen Sie es vor allen Dingen, durch diese faszinierende Ära der Musik, des Theaters und seiner Menschen zu wandeln. Viktorianische Sänger – aller Art. (Übersetzung des Vorwortes aus dem Englischen von Daniel Hauser)
Kurt Gänzl: Victorian Vocalists; Routledge Verlag London 2018, 741 Seiten, viele Abbildungen, Glossar, Namensverzeichnis, ISBN 978-138-10317-7