Selbst an einem strahlenden Sommertag gelesen, könnte einen Opernfreund die Sammlung von Interviews, die der scheidenden Münchner Intendant Nikolaus Bachler unter dem Titel Sprachen des Theaters mit Regisseuren führte, in trübe Bußtags- bis Totensonntagsstimmung versetzen, wenn ihm als Quintessenz und Höhe- wie Schlusspunkt in Aussicht gestellt wird, bald würde man auch Eingriffe in die Substanz der Werke als selbstverständlich hinnehmen. Dass Bruchstücke romantischen Liedguts bereits jetzt als Baumaterial für eine zeitgenössische Dichtung benutzt werden, erfährt der Leser in der geheimnisvoll raunenden, mit endlosen Aufzählungen wie krassen Gegensätzen arbeitenden Einleitung zum Buch von Albert Ostermaier, mündend in ein ER, den Regisseur und so recht überraschend doch noch zum Thema des Buches passend.
15 Regisseure hat Bachler befragt, den Anfang macht Hans Neuenfels, mit dessen Frankfurter Aida, in der Brathähnchen zum Triumphmarsch durch die Luft flogen, alles begann, eine Lösung, die verhinderte, dass durch Dirigent Gielen das Stück ganz gestrichen wurde. Wenn Bachler bei Regisseuren zwischen Visionären und Praktikern unterscheidet, dann gehört Neuenfels sicherlich zu den Ersteren, allerdings nicht nur in seiner Regiearbeit, sondern auch, wenn er rückblickend meint, die Sänger seien zwar nicht immer sofort mit seinen Lösungen einverstanden gewesen, letztendlich aber doch, wobei er Julia Varady als Beweis nennt. Wer Einblick in die Zustände an der Deutschen Oper Berlin der 80er und 90er hatte, weiß allerdings auch um einen Dano Raffanti, der als Duca wegen der Regiezumutungen nicht seine gewohnte Leistung abrufen konnte, von einem Alexandru Agache, der als Nabucco erst durch Intendant Götz Friedrich wieder zurück auf die Probenbühne geholt werden konnte ( Was ihm der Regisseur auf der Premierenfeier übel vergalt.) einem Paolo Coni, der fassungslos über die Trovatore-Produktion und entsprechend beeinträchtigt war. Man sollte also mit Vorsicht genießen, was einem als Leser sowohl vom Interviewer wie vom Interviewten aufgetischt wird.
Es folgt das Interview mit dem Polen Krzysztof Warlikowski, in dem es nicht nur um Regie geht, sondern u.a. auch um den polnischen Antisemitismus oder den Umgang der polnischen Gesellschaft mit Aidskranken, der Oper nähert man sich wieder mit dem Erstaunen des Regisseurs über die unfreundliche Aufnahme seine Iphigenie-Inszenierung durch das Pariser Publikum. Romeo Castellucci und sein Kollektiv Societas Raffaello Sanzio schließen sich an, der Text atmet die Begeisterung für die Schönheit, Dankbarkeit für den Wahnsinn, für diese, der Oper innewohnende Schönheit so viel Geld auszugeben, wie es zumindest in Deutschland geschieht. Frank Castorf behauptet zwar zu Beginn, DDR und Volksbühne vollkommen vergessen zu haben, widerlegt dies jedoch sofort mit einem endlosen Schwall von Erinnerungen daran. In gewohnter Weise kokettiert er mit der Ablehnung, die seine Arbeiten erfahren, meint über das Orchester, „man muss es eigentlich besiegen“, was immer das auch heißen mag. Auf Zustimmung dürfte er mit der Behauptung stoßen, Berghaus, Müller und Konwitschny, d.h. ihren Arbeiten, mangele es an Sinnlichkeit. Ob an ihn Andreas Kriegenburg gedacht hat, wenn er meint, die meisten Regisseure seien „sozial gestört“? Seine Ausführungen liest man gern, sie bestätigen Bachlers Behauptung, bei Kriegenburg handle es sich um einen „poetischen Regisseur“, der sich übrigens selbst als „handwerklicher“ Vertreter der Gattung sieht. Arpad Schilling ist einer der vielen Opernregisseure, die nie Opernregie studiert oder durch Assistenz erlernt haben, aber die Forderung nach einem Rigoletto ohne Buckel verzeiht man ihm. Andreas Dresen kommt vom Film, studierte vor der Inszenierung der Fanciulla del West das Leben moderner Bergarbeiter, strebt aber das Gegenteil von Realismus an. Donna Anna sieht er der Lüge überführt, weil sie im Piano nach Hilfe ruft. Hat er schon einmal von einem vor Entsetzen fast erstickten Schrei gehört? Als Laienverfassungsrichter lehrt ihn die Wirklichkeit vielleicht noch einiges an Psychologie.
Amélie Niermeyer sieht Regiearbeit als Teamarbeit, aber auch hier kommt, wie in allen bisherigen Beiträgen, der Dirigent nicht vor. Der wird erst genannt, als es darum geht, diesen Berufsstand „offener werden (zu lassen) für Eingriffe“, wohl solche, die es ihr ermöglichen „in die Extreme (zu) gehen.“ Gleiches schöpferisches Vermögen wie das eines Malers oder Schriftstellers sieht David Bösch im Regisseur verborgen. Und mit dieser Gabe will er auch „bei 80jährigen was bewirken“. Ob es Martin Kusej gelingt, einerseits mit den Dirigenten zusammen zu arbeiten und gleichzeitig in die Substanz eines Werks einzugreifen? Ihm ist es „nicht mehr als ein Kodex, demzufolge das Werk unantastbar und sakrosankt ist“. Gleichzeitig plagt ihn die Angst, als „alter weißer Mann“ nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein.
Zu Sinnlichkeit und Kitsch, wenn auch mit schlechtem Gewissen, bekennt sich Axel Ranisch, aber auch zur „Pflicht, zu suchen, von welcher Seite das Stück noch nie betrachtet worden ist“. Das wird natürlich immer schwieriger, bald gibt es nichts mehr, was nicht schon war. Vielleicht besinnt man sich dann wieder auf die Musik.
Nach dem Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui kommt Mateja Koleznik zu Wort, die mit der Einsicht erfreut, „die Musik spielt eine große Rolle“, den Dirigenten aber als Konkurrenten sieht. Sympathisch berührt, dass sie sich nicht als Künstlerin sieht, das Werk nicht neu erschaffen, sondern nur in einem neuen Licht escheinen lassen will. Ein Dirigent wie Riccardo Muti, der um den perfekten Klang im Zusammenspiel von Orchester und Sängern besorgt ist, ist da allerdings ein Störenfried.
Erfrischend in seiner Direktheit, Unvoreingenommenheit und seinem Realitätssinn ist der Beitrag von Barrie Kosky, besonders aber in seiner Toleranz gegenüber den Teilen des Publikums, denen es vor allem um die Musik und die Sänger geht, da bekennt er sogar: „Wenn die Stimmkunst außergewöhnlich ist, erträgst du alles“. Wer außer ihm kommt in diesem Buch schon zu der Einsicht, dass Regietheater im Widerspruch zum Musiktheater steht, dass es Dilettanten anzieht und duldet, dass es „zur Parodie seiner selbst“ geworden ist. „Man hat es oder man hat es nicht“- die Fähigkeit, ein Stück zeit-, publikums- und werkgerecht auf die Bühne zu bringen. Und nicht nur überzeugend, sondern darüber hinaus sympathisch ist das Zugeständnis, zwei Enttäuschungen erlebt zu haben: die Operette für das 21. Jahrhundert nicht neu haben erfinden können und keine Antwort auf die Frage zu haben: Was soll Oper jetzt sein. Am ehesten wohl die Rückkehr zum griechischen Modell sei vorstellbar.
Nach so vielen klugen und tröstlichen Bemerkungen erträgt man sogar noch die wehleidigen Ausführungen von Dmitri Tscherniakov über seine Befindlichkeiten beim Inszenieren von Opern und hofft inständig, dass die von Interviewer und Interviewtem ausgesprochene Vermutung, bald würde man in die Partitur eingreifen können, nie Realität wird (320 Seiten, Schirmer/Mosel 2021; ISBN 978 3 8296 0926 5). Ingrid Wanja