Theater der Stimmen

 

„Heldensoprane?“. Man denkt zuerst an Flagstad, Nilsson, Varnay oder die aktuellen Foster, Stemme, Herlitzius usw., also Sängerinnen, die Brünnhilde, Elektra und eventuell noch die Turandot singen. Eine Assoziation, auf die der Autor gleich in der ersten Anmerkung seines schmalen, aber an Fußnoten reichen Büchleins aufmerksam macht. Man erinnert sich auch an die klassischen Fächer, wie sie durch Rudolf Kloiber festgeschrieben wurden, der als Pendant zum Heldentenor den Hochdramatischen Sopran, aber eben keinen Heldensopran kennt. Durch den Untertitel lässt Thomas Seedorf keine Verwirrung aufkommen: „Die Stimme der eroi in der italienischen Oper von Monteverdi bis Bellini“, also den männlichen Sopran, genauer den Sängerkastraten meint er, der in der Hochzeit der Opera seria etwa zwischen der Mitte des 17. bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Held der Opernbühne war.

heldensoprane seedorf wallsteinSeedorf widmet sich in seiner Betrachtung des Helden nicht nur den Kastraten, sondern auch den „Sängerinnen in Sopran- und Altlage“, als contralto musico und contralto bezeichnet, die allmählich in die Fußstapfen der Kastraten traten, sofern keine Kastraten verfügbar waren bzw. als um 1800 im Zuge der Französischen Revolution und Aufklärung ein ästhetischer Paradigmenwechsel einsetzte. Seedorfs Buch ist eine fesselnde Lektüre, weil sie sich nicht nur mit der Geschichte der Sängerkastraten befasst – deren erste „um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien nachweisbar sind, stammten aus Frankreich und Spanien“ – dazu mit dem Akt der Kastration, der Stimme und den Körpern der evirati sowie mit den stimmlichen und gesangstechnischen Besonderheiten, sondern die Bühnenpraxis und die Gegebenheiten an den Bühnen ebenso wenig außer Acht lässt wie die gesellschaftliche Situation. Die Sängerkastraten waren ein kulturhistorisches Phänomen, die ihre Faszinationskraft der Tatsache verdankten, dass der künstliche und erregende Klang ihrer Stimme sich besonders für die Darstellung aristokratischer Idealherrscher, knabenhaft jugendlicher Helden und Liebhaber eignete, “Die Stimme des Kastraten war eine vollkommene Klangchiffre des eroe amante“ und „Anders als in der heutigen Kultur, in der die Stimme als sekundäres Geschlechtsmerkmal gilt…. gibt es für die frühe Neuzeit keinen Hinweis darauf, dass die Stimme, genauer: die Stimmlage zwangsläufig als Markierung des biologischen Geschlechts verstanden wird“. Spannend fand ich nachzuvollziehen, wie sich im 17. Jahrhundert bestimmte Bühnen- und Besetzungspraktiken einbürgerten, was Seedorf mit Begriffen wie „heroischer“ und „lächerlicher“ Travestie, gegengeschlechtlicher Besetzungspraxis und Cross-Dressing beschreibt, und sich später durch die Besetzung mit Kastraten, Sopran oder Tenor die Hierarchie innerhalb eines Werkes erkennen lässt, was am Beispiel von unterschiedlichen Vertonungen und Besetzungen des Alexander-, Cäsar- und Achilles-Stoffes sehr anschaulich verdeutlicht wird: „Für das Theater der Stimmen des 18. Jahrhunderts gilt eine Semantik der Stimme“. Absolut lesenswert, konzentriert, dicht und klug. Und von den vielen Fußnoten muss man sich nicht schrecken lassen (Thomas Seedorf: Heldensoprane. Die Stimme der eroi in der italienischen Oper von Monteverdi bis Bellini.88 Seiten Wallstein Verlag, 88 Seiten, ISBN-10: 383531730X; ISBN-13: 978-3835317307; Abbildung oben:Carlo Broschi, genannt Farinelli gemalt von Corrado Giaquinto/Wikipedia ).  R.F.