Sänger-Freund

 

Wenn man die Tagebücher des Henry Beyle, der sich später Stendhal nannte, liest, kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass es die Offiziere in Napoleons Armee lustig hatten. Schon im dritten Eintrag seines im April 1801 begonnenen Journal berichtet er über den enttäuschenden Besuch des grand théâtre (wohl die Scala) in Mailand, und einen Tag später weiß er nur zweierlei von Bergamo zu berichten: dass es über zwei Theater verfüge, wobei er das Nächstgelegene „jeden Abend“ besuche, und dass Madame Nota als die hübscheste Frau in der Stadt gelte („und sie ist tatsächlich nicht übel“, notiert er feinfühlig). Musik und Frauen waren denn auch die zwei Leidenschaften, welche Stendhal sein ganzes Leben hindurch begleiteten. Sie vereinten sich in seiner wohl nicht nur platonischen Bewunderung von Sängerinnen. Seine Schriften enthalten viele und interessante Beobachtungen zu den Opernsängern seiner Zeit, und die Romanistin Annalisa Bottacin widmet ihnen zu Recht ein ganzes Lexikon. Der Titel des hübschen Büchleins verspricht zwar ein „Musikalisches Lexikon“, in Wirklichkeit hat aber Bottacin auf 300 Seiten ausschließlich die Passagen versammelt, in denen Stendhal auf Sänger und Tänzer eingeht.

Bottacin Stendhal La VitaKomponisten kommen nicht vor, und das mag man durchaus bedauern, insofern als gerade in der Charakterisierung der Autoren die musikalischen Ansichten Stendhals und namentlich seine Vergötterung von Cimarosa und Mozart viel plastischer hervortreten, als wenn er auf die Interpreten ihrer Musik eingeht. Der Wert seiner Eindrücke ist indes unbestritten. Stendhal ist zwar ein konservativer und im Grund intoleranter Musikliebhaber, der nur die italienische Oper des späten 18. Und frühen 19. Jh. gelten lässt, aber er hörte aufmerksam zu und konnte pointiert formulieren. Meistens handelt es sich dabei um Beobachtungen aus erster Hand, aber nicht immer. Bekanntlich nahm er es mit der ehrlichen Berichterstattung nicht ganz genau: seine Biographie Haydns ist ja ein erbärmliches Plagiat. Berühmtheit als Musikschriftsteller erlangte er jedoch vor allem mit seiner Vie de Rossini, die eine Hauptquelle Botaccins darstellt. Die Forscherin hat darüber hinaus eine Anzahl von anderen Texten exzerpiert, vor allem die Tagebücher und die Reiseberichte. Für jeden Künstler bietet das Piccolo dizionario eine kleine Lebensbeschreibung, eine Zusammenfassung von Stendhals Meinungen (dankenswerterweise erfolgt dies anhand von Zitaten in der Originalsprache und nicht in italienischer Übersetzung) und Angaben zu den Quellen. Man findet z.T. bekannte Passus über die Größen der Zeit wie Giovanni Battista Velluti (dem ja ein ganzes Kapitel in der Rossini-Biographie gewidmet ist), Andrea Nozzari oder Rosmunda Pisaroni. Diejenigen jedoch, die sich für das Primo Ottocento interessieren, werden sich vor allem für die Einträge zu Sängern zweiten und dritten Ranges interessieren, die anderswo wohl nicht so leicht greifbar sind. Der Rezensent könnte diese Publikation dementsprechend in höchsten Tönen loben, wenn sie nicht so schlampig erstellt worden wäre. Man kann vielleicht Bottacin nicht vorwerfen, dass das Büchlein keine Bilder enthält, welche die Veröffentlichung indes erheblich aufgewertet hätten, ja man könnte angesichts der zahlreichen Druckfehler noch wohlwollend ein Auge zudrücken. Gravierende Mängel dürfen jedoch nicht verschwiegen werden. Man sucht vergeblich eine richtige Bibliographie, auch der Werke Stendhals. Bottacin folgt der italienischen Unsitte, einen Titel das erste Mal vollständig zu zitieren, danach aber nur mit „cit.“ („zitiert“). Der Leser muss daher mühsam hin und her blättern, um die bibliographischen Angaben zu finden, die er braucht. Was vielleicht noch bei Monographien durchgeht, ist in einem Lexikon, das man bestimmt nicht von Anfang bis Ende liest, ein Ärgernis. Groteskerweise fehlt darüber hinaus ein Namenregister, was ein solches, an sich gut recherchiertes Werk, in dem natürlich zahlreiche, auch unbekanntere Komponisten und Werke genannt werden, beinahe unbrauchbar macht. Es scheint so, also ob – wie so oft – die Autorin kein genaues Bild ihres Publikums vor sich gehabt hätte. Denn wer soll sich heutzutage für dieses Thema, zumal im postberlusconischen Italien, interessieren, wenn nicht die conoscitori? Wie Stendhal in Mailand 1811 spürt der Leser hier gleichzeitig Dankbarkeit für das Unterfangen und die seccatura, die ein unzulänglicher Cicerone hervorruft (Piccolo dizionario musicale stendhaliano. A cura di Annalisa Bottacin.Milano : La vita felice 2016, ISBN 978-88-7799-786-9, € 14,50). Michele C. Ferrari