Fund- und Schatzgrube

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Nur häppchenweise und nicht etwa in einem Zuge sollte man sich den umfangreichen Band  mit dem Titel  Voices zu Gemüte führen, in dem nicht mehr und nicht weniger als knapp siebzig mit der Oper oder zumindest mit der klassischen Musik verbundene Künstler sich zu dem Thema äußern, warum sie sich ihrem anspruchsvollen und risikoeichen Beruf, der fast allen Berufung ist, zugewandt haben, welches das auslösende Erlebnis für die Wahl desselben war und welche Erlebnisse prägend für ihr Verhältnis zur Musik waren und sind. Ein kleinerer Teil der Beiträge wurde speziell für den umfangreichen Band verfasst, ein größerer wurde von Christine Cerletti (nicht zu verwechseln mit dem Opernpapst Rodolfo Celletti) und von Thomas Voigt erfragt und aufgeschrieben, und auch wenn der Titel nur Sänger vermuten lässt, kommen auch Dirigenten, Pianisten, Regisseure, Stimmkenner und sogar mit Ion Holender ein Agent/Operndirektor zu Wort, übrigens zur Überraschung des Lesers mit dem befremdenden Bekenntnis, so recht gefallen habe ihm lediglich der Rosenkavalier unter Carlos Kleiber– ein rechtes Armutszeugnis für einen, der schließlich für die Qualität der Wiener Opernereignisse zumindest mitverantwortlich war. Seltsam mutet auch seine Kritik am Singen in Originalsprache an, wo doch die Wiener Staatsoper schon früh mit Übersetzungen für das Publikum arbeitete.

Jedes Kapitel enthält neben dem Bekenntnis des jeweiligen Künstlers eine Reihe von Fotografien, dazu kleingedruckt den Lebenslauf und Karriereverlauf. Die rund 700 Fotos sind nicht nur Rollenportraits, sondern zeigen zum Beispiel auch die im jeweiligen Artikel erwähnten Persönlichkeiten oder Plattencover.

Ab und zu taucht eine längst verstorbene und so nicht mehr befragbare  Persönlichkeit auf, die mit einem attraktiven Foto und einem meist von Bescheidenheit sprechenden Eigenzitat und einem rühmenden Urteil gewürdigt wird.

Das Vorwort stammt von Elke Heidenreich, die in gewohnt gefühliger Art, aber auch ungenau ihre Liebe zur Musik bekundet. Nicht weil Orpheus nicht an die Macht seiner Musik glaubte, sondern weil er die Klagen der Gattin nicht ertrug, drehte er sich trotz des Verbots nach ihr um.

Christine Cerletti erläutert, warum Musik gerade in unserer Zeit ungemein wichtig ist. An ihre Ausführungen schließt sich eine „Chronik“, beginnend mit 1945, an, die bis in unsere Tage reicht, also endend mit der Berufung Kyrill Petrenkos als Chef der Berliner Philharmoniker, der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine.

„Momente unendlichen Glücksgefühls“ schildert anschließend Thomas Voigt, zu welchen offensichtlich neben Opernerlebnissen auch ein Gespräch mit Christa Ludwig kurz vor ihrem Tod, aber auch emsiger Plattentausch mit Jochen Kowalski gehörte.

Den Reigen der Bekenntnisse eröffnet Christa Ludwig, und ihre Aussagen könnten fast wörtlich auch für gut zwei Drittel aller Befragten gelten, die allesamt wie die berühmte Mezzosopranistin in einem Elternhaus aufwuchsen, in dem Musik zumindest regelmäßig konsumiert, wenn nicht sogar praktiziert wurde und das sogar professionell. Ganz selten trifft der Leser auf Musiker, deren Familie die klassische Musik fremd war oder die gar eine feindselige Haltung ihr und dem Wunsch des Kindes nach einem musischen Beruf gegenüber einnahm. Da ist viel von Kindern die Rede, die unter dem Flügel hockten, wenn der Vater seine Opernpartien einstudierte, von Schallplattensammlungen der Eltern, die durchforstet wurden, von einer Gilda Erna Bergers, die zu Tränen rührte, von der Magie des Verdi-Ortes Busseto, und gar nicht so selten gibt es, vor allem bei amerikanischen Sängern, den Umweg über die U-Musik. Einige Jahrzehnte zuvor wurde noch der Kirchenchor als Einstiegsdroge in das Reich der Musik angegeben, zumindest von italienischen Sängern. Im vorliegenden Buch bekennt sich allerdings noch Marlis Petersen dazu.

Und selbst ein Stimmenkenner wie Jürgen Kesting sieht sich zu peinlichen Bekenntnissen gezwungen, wenn er als Dreizehnjähriger Rudolf Schock für das non plus ultra des Tenorgesangs hielt. Da hatte sicherlich Ferruccio Furlanetto mit seiner Vorliebe für Boris Christoff als Zaren, die er mit Ludovic Tézier teilt,  eher ins Schwarze getroffen. Ambrogio Maestri wiederum glaubt man gern, dass seine Mutter in der Nähe der Mailänder Scala ein Restaurant hatte, Christian Thielemann ebenso, dass er über die Orgelplatten der Eltern zur Musik kam. Brian Large, verantwortlich für unzählige Videoaufnahmen von Opernaufführungen, kam über die Tierliebe zur Oper, als er zwar nicht Aida mit Elefanten, dafür aber Die Walküre mit Pferden im Kino sehen durfte.

Darf bei Stimmen-Beschreibungen nicht fehlen: Thomas Voigt, unangefochtener Kenner mit vielen Publikationen/ OBA

Als Verführer zur Oper trifft der Leser immer wieder auf Birgit Nilsson, natürlich auf die Callas, auf Janet Baker und auf Fritz Wunderlich. Zu Tränen und in der Folge zum Sängerberuf rührt und führt auffallend häufig Verdis La Traviata. Zu denen, die Violettas Schicksal besonders rührte, gehört auch Diana Damrau.  Aber auch Der Freischütz übte eine ähnliche Sogwirkung aus. Anne Sophie von Otter allerdings bekennt sich dazu, dass der attraktive Musiklehrer sie für die klassische Musik zu interessieren wusste, und auch Anja Harteros verdankt dem Musiklehrer am Gymnasium, an dem sie bereits mit dreizehn Jahren die Zerlina sang,  das Interesse an Oper.

Das letzte Kapitel wird von Judith Williams, präsent in so ziemlich allen TV-Formaten, bestritten, die auch hier noch einmal ihre traurige Geschichte von der durch Hormone, die sie wegen einer Krebserkrankung nehmen musste, beschädigten Stimme berichtet. Neben Furtwängler, Caballé und Kosky wirkt  das doch etwas seltsam. Ansonsten aber ist das Buch eine Fund- und Schatzgrube für alle Opernfreunde (336 Seiten, Abbildungen/Fotos, Verlag für moderne Kunst , Wien 2022; ISBN   978 3 903439 44 3.) Ingrid Wanja