Keiner schlafe…

 

Wer die beiden dickleibigen Bände von Christian Merlin zum 175. Geburtstag der Wiener Philharmoniker durchpflügt hat, meint vielleicht, bereits alles über den berühmten Klangkörper zu wissen, was wissenswert ist. Aber  Christoph Wagner-Trenkwitz gelingt es mit seinem quantitativ weit unterlegenen Das Orchester, das niemals schläft doch noch, qualitativ eine ganz andere, aber nicht weniger beachtenswerte Saite anzuschlagen. Er erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder tiefgründige Wissenschaftlichkeit, sondern den, den Leser zu unterhalten, wohl auch zu informieren, aber auf eher unprätentiöse, ihn nie überfordernde Weise, denn der „Einsteiger“ ist als Leser erwünscht. Bereits der Titel bereitet darauf vor, dass Anekdotisches eine bedeutende Rolle spielen wird, und im Vorwort bekennt sich der Orchestervorstand ausdrücklich dazu, sorgt auch für einen Lacher, wenn er politisch hoch korrekt von den „Komponistinnen und Komponisten“, die den Wienern verbunden waren, spricht. Der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer wird historisch, wenn er im Grußwort das Orchester mit Karl V., indessen Reich die Sonne nie unterging, vergleicht.

Sehr anschaulich beginnt Wagner-Trenkwitz mit einem „Rundgang“ durch Wien zu den Stätten, die für die Philharmoniker bedeutsam waren, zu den Sternen, die für berühmte Musiker in das Trottoir eingelassen worden sind und nimmt sich dann das Gründungsjahr 1842 vor mit all den Ereignissen, die „sonst noch“ passierten.

Man merkt dem Autor immer wieder die starke Identifizierung mit den Wienern an, nicht nur, wenn er von „unserem Orchester“ spricht, wenn er begeistert das Goldene Zeitalter, das mit dem Bau des Hauses für den Musikverein begann, preist. Immer wieder lockern Anekdoten den Text auf, und bemerkenswert ist das enge Verhältnis, das der Verfasser zu seinem Leser aufzubauen vermag, der einbezogen wird in die Bewunderung für den einmaligen Klangkörper.

Zwar geht Wagner-Trenkwitz in der ersten Hälfte seines Buches weitgehend chronologisch vor, findet aber zunehmend zu einer thematischen Gliederung , so wenn er über das Recht des Orchesters, über die Aufführung neuer Werk zu entscheiden, oder über das schillernde Verhältnis der Juden zum Komponisten Gustav Mahler schreibt. Dass Dirigenten auch nur Menschen sind, erfährt man im Kapitel über die „Last der Geschichte und Aufbruch in eine neue Zeit“, so in einem bösen Brief Bruno Walters über Furtwängler oder  (das las man neulich in einem bösen Buch ganz anders) über Knas Gegnerschaft gegenüber den Nazis. Natürlich versagt es sich der Autor nicht, die skandalöse Geschichte um Baldur von Schirachs Ehrenring zu berichten oder die Feindschaft zwischen Karajan und Furtwängler. Ausführlich wird auf das Schicksal der nichtarischen Mitglieder des Orchesters eingegangen und die „Schuldabwehr“ nach 45, die erst mit dem Skandal um Waldheim ein Ende fand.

Nach dem historischen erweist sich der zweite, thematisch gegliederte Teil als ebenso interessant: Klang (an der menschlichen Stimme orientiert) und Tradition als Merkmal des Orchesters, die Rolle des Konzertmeisters, die Wichtigkeit von Kammermusikgruppen innerhalb des Orchesters oder das Wiener Horn, noch aus der Beethovenzeit stammend sowie andere Besonderheiten der Wiener Instrumente. Viele Musikerdynastien lieferten dem Orchester Mitglieder, oft innerhalb einer Instrumentengruppe, eine von vielen sind die Hellmesbergers. Aber auch Mehrfachbegabungen finden sich unter ihnen, so der Komponist Franz Schmidt oder Schriftsteller und Maler.

Eine wichtige Frage ist natürlich die, „wie man zu den Philharmonikern kommt“ (nicht nur durch Üben, wie die Anekdote meint). Die Organisation von Staatsopernorchester und Philharmonikern, der Einzug der Frauen ins Orchester, die Jugendarbeit, Tourneen sind weitere Stichpunkte, dazu kommen die Kurzportraits der wichtigsten Dirigenten, allen voran Böhm, Karajan und Bernstein. Natürlich darf das Neujahrskonzert als Institution, wenn auch nazistisch kontaminiert, nicht fehlen, was auf das Sommernachtskonzert und den Philharmonikerball, ab 2011 auch den Opernball, nicht zutrifft. Das Verdienst des Buches ist es, sehr viel über die Wiener Philharmoniker auf relativ knappem Raum in unterhaltsamer Art und Weise zu vermitteln  (Amathea Verlag Wien ISBN 978 3 99050 095 8). Ingrid Wanja