Die Schamröte ins Gesicht steigen müsste allen an der Renovierung der Berliner Staatsoper Beteiligten, würde ihnen zur Kenntnis gelangen, dass es die Mailänder in nur einem Jahr, zwischen 1945 und 1946, schafften, die durch einen Bombenangriff der Alliierten 1943 zerstörte Scala wieder aufzubauen. „Pane e Scala“ hatte der Mailänder Bürgermeister Antonio Greppi seinen Mitbürgern versprochen, mit 5 Millionen Lire in der Stadtkasse und einer zu einem Viertel zerstörten Stadt. Um eine weitere Million erhöhte sich das Budget, nachdem man Arturo Toscanini darum gebeten hatte, den Wiederaufbau zu unterstützen, ihn nach Mailand eingeladen hatte. Das Mailänder Großbürgertum ließ sich nicht lumpen und spendete ebenfalls.
Am 11. Mai 1946 wurde die Mailänder Scala mit einem Konzert feierlich wiedereröffnet, am Pult Toscanini, abgesehen vom letzten Teil, der dritte Akt aus Puccinis Manon Lescaut, der von Antonino Votto dirigiert wurde. Bei den Proben zum Te Deum von Giuseppe Verdi fielen die berühmten Worte von der voce d‘ angelo, mit denen Toscanini den Sopran Renata Tebaldis bedachte. Neben der ganz jungen Sängerin standen gestandene, dem Dirigenten noch aus seiner voramerikanichen Zeit bekannte Stimmen wie die von Tancredi Pasero, Mafalda Favero, Mariano Stabile oder dem Comprimario Giuseppe Nessi.
Das Programm umfasst Kompositionen der vier großen Italiener Rossini, Verdi, Boito und Puccini und beginnt recht martialisch mit der Sinfonia zu La Gazza Ladra, mit viel Trommelwirbel und Geschmetter, was bei der auch in Italien vorhandenen Kriegsmüdigkeit etwas befremdet. Aber immerhin fühlte man sich ja als siegreich aus der Katastrophe herausgekommen. Noch weniger nachvollziehbar ist die Wahl der immerhin fast eine halbe Stunde dauernden Ballettmusik aus Rossinis Guglielmo Tell, die wohl eher dem Charakter der Musik als der Tatsache geschuldet war, dass sie aus einer Freiheitsoper stammt. Ebenfalls um den Freiheitskampf eines Volkes geht es in des Komponisten Mosé, aus dem das Gebet erklang mit einem vokal schwergewichtigen Tancredi Pasero in der Titelpartie, mit dem Tenor Giovanni Malipiero, der hier besser passt denn als Des Grieux, mit Renata Tebaldi und Jolanda Gardino. Natürlich durfte Nabucco nicht fehlen, der ebenso natürlich mit Va pensiero und der Sinfonia vertreten ist, und wo es, was Überschwänglichkeit und Begeisterung angeht, kein Halten mehr gibt. Noch mehr fetzt es bei der Sinfonia von I Vespri Siciliani, und man hat den Eindruck, dass es mehr noch als um technische Brillanz um die Vermittlung einer großen Begeisterung darüber geht, Freiheit und Scala wiedergewonnen zu haben.
Hochdramatisch geht es auch im Te Deum zu, und die Stimme der Tebaldi, im Chor postiert, klingt tatsächlich wie vom Himmel kommend. In Il Viaggio a Le Havre/ Manon Lescaut hört man das Orchester weniger in Farben schwelgen, als straff fordernd zu Werke gehen. Der bereits erwähnte Tenor ist hell, herb und durchdringend, in der Nähe zum Charaktertenor und eindrucksvoll im „Guardate“. Der Sopran klingt noch sehr nach Nanetta, als die sie Toscanini gekannt hatte, der Bariton Mariano Stabile höchst expressiv als Lescaut.
Der Prolog aus Boitos Mefistofele beschließt das Konzert und bringt damit das von der Ausführung her interessanteste Stück zu Gehör mit einem Tancredi Pasero, der einfach eine Wucht ist.
Insgesamt jedoch ist die Aufnahme wegen auch technischer Schwächen eher von historischem als künstlerischem Interesse, besonders was die Sänger angeht. Sie ist die Beilage zu einem sehr lesens- und besitzenswertem Buch mit vielen Abbildungen in der Reihe La Scala Memories, dessen Text von Giovanni Gavazzeni verfasst wurde und in drei Sprachen (Italienisch, Englisch, Deutsch) verfügbar ist. Das Cover zeigt das Ankündigungsplakat des Konzerts, die Rückseite die zerstörte Scala (Skira ISBN 978 88 6544 0407). Ingrid Wanja