Errungenschaft und Erfolg

 

Im Jahr 2016 wurde René Jacobs 70 Jahre. In fünf Jahrzehnten als Sänger und Dirigent hat der Belgier die Wiederentdeckung der Musik des 17. und frühen 18.Jahrhunderts maßgeblich beeinflußt und hat Werke wieder aufgeführt und hörbar gemacht, für die es keine Aufführungstradition mehr gab. Wer etwas über Jacobs künstlerischen Werdegang und dadurch auch über die Re-Etablierung der Musikepoche zwischen Monteverdi und Mozart auf Opern- und Konzertbühnen erfahren will, für den lohnt sich der Griff zu einem Buch, das bereits 2013 bei Bärenreiter/Henschel erschien. Ich will Musik neu erzählen ist der Titel eines Gesprächsbands zwischen Jacobs und der Heidelberger Musikwissenschaftlerin Silke Leopold, in dem Jacobs umfangreiche Auskunft zu seinem künstlerischen Wirken gibt. Es gibt vier große Kapitel, die von Leopold jeweils über wenige Seiten mit einleitenden Anmerkungen versehen wurden. In den „Stationen einer Karriere“ geht es um den Werdegang vom Chorknaben über den Sänger, dessen männliche Altstimme stilbildend war, indem er die durch England übermittelte Art des Falsettierens durchbrach und einem neuen Klangbild zur Popularität verhalf, bis zum Dirigenten. Angesprochen werden auch kurz die Tätigkeit als Lehrer an der  Schola Cantorum Basiliensis sowie die künstlerische Leitung der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Die Aufbruchsstimmung der Szene zeigt sich im gemeinsamen Forschen, Entdecken und Musizieren, früh lernte Jacobs die Kuijkens, Gustav Leonhardt, Ton Koopmann und Jos van Immerseel kennen, mit Konrad Junghänel und William Christie erlebte er einen besonderen Moment bei der Aufnahme von Charpentiers „Leçons de ténèbres“ für harmonia mundi, eine weitere mit Cavallis Calisto in der Inszenierung von Herbert Wernicke.

Mehrere Seiten über Arie und Rezitativ sowie über Stimmlagen und Gesangstraktate folgen unter der Überschrift „Über alte Musik und historische Aufführungspraxis“. Jacobs erläutert seine Praxis, verrät bspw., was es mit der „Pathosformel“ auf sich hat, die es sowohl bei Händel als auch bei Mozart und anderen Komponisten dazwischen gibt und die aus zwei Sechzehnteln, einer Viertel und zwei Achteln besteht. Viele aufführungspraktische Entscheidungen, Interpretations- und Ästhetikprobleme werden von Jacobs angeschnitten oder beantwortet. „Über Komponisten und ihre Werke“ dreht sich in unterschiedlicher Ausführlichkeit um Schubert, Bach, Händel, Telemann, Keiser, Purcell, Lully, Rameau, Mozart, Haydn, Rossini und um Monteverdi, Cavalli und die venezianische Oper sowie um Reformopern und Opernparodie (Gassmanns „L’Opera Seria“); Jacobs‘ Anmerkungen zu den Komponisten erfolgen praxisbezogen aus den Erfahrungen seiner eigenen Aufführungen und Aufnahmen. Das abschließende Kapitel „Produktionsbedingungen im Opernbetrieb“ handelt von Eingriffen in den Notentext und kreative Freiheiten, die Verpflichtung von Sängern und Orchestern, Dirigenten und Regisseuren bzw. historische Aufführungspraxis und Regietheater sowie Festivals, Jacobs‘ Arbeit in Innsbruck und Zukunftsplänen. Ergänzt wird das Buch durch Fotos (farbig und schwarzweiß) und ein fünfseitiges Namensregister: auf den ca. 210 Seiten fallen ca. 250 unterschiedliche Namen, das Buch ist auch ein interessantes Who-is-who der Szene für Alte Musik, nur ein Register der erwähnten Werke und Produktionen fehlt zur schnellen Übersicht. Das Gespräch ist keine konträre Diskussion, Leopold fungiert überwiegend als kenntnisreiche Stichwortgeberin. „Ich will Musik neu erzählen“ ist moderierte Selbstdarstellung in lockerem und gut zu lesendem Gesprächston, ein informationsreiches Buch über Erfahrungen, Erfolge und Errungenschaften des Künstler René Jacobs, das seinen Reiz aus dem Wechsel zwischen musikwissenschaftlicher Fragestellung, künstlerischem Werdegang und persönlicher Ansicht bezieht. (Silke Leopold, René Jacobs – „Ich will Musik neu erzählen“, 223 Seiten, Bärenreiter/Henschel ISBN 978-3-7618-2266-1) Marcus Budwitius