Verführung durch Musik

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Wer denkt nicht an Klingsors  Zaubergarten, an die schönen Blumenmädchen, an Kundrys sündigen Kuss, wenn er den Titel Parsifals Verführung liest, und wer hat nicht bei einem Verfassernamen wie Laurence Dreyfus das Schicksal des gleichnamigen  zu Unrecht beschuldigten französischen Offiziers vor Augen? Wenn dann noch vom Cover ein Gesicht mit verzerrten Zügen wie das eines E. T. A. Hoffmann nach dem Besuch von Lutter & Wegner guckt, ist die Verwirrung vollkommen. Es geht aber weder um die Verführung von Parsifal, noch um Spionage oder nächtliche Gelage, sondern um die Umgarnung des jüdischen Dirigenten Hermann Levi (Bild oben/ OBA) durch Richard Wagner, der ihn für die Uraufführung seines Bühnenweihfestspiels in Bayreuth und zum Übertritt zum christlichen Glauben bewegen wollte. Ersteres gelang ihm, letzteres nicht.

Wenn das Buch also mit einem „er“ beginnt, sind weder Parsifal noch Richard Wagner gemeint, sondern Levi, außer ihm gibt es eine zweite „Heldin“, die Frauenrechtlerin Anna Ettlinger, die ihren alten Freund Levi aufsucht, um mit ihm über eine Biographie, die sie schreiben will, zu sprechen. Die ihr gewidmeten Kapitel sind nach den Tagen des Aufenthalts im Hause Levi durchnummeriert, die mit Levi im Mittelpunkt tragen als Kapitelüberschriften Jahreszahlen. Der Autor ist bisher nicht als Romanschriftsteller bekannt, sondern vor allem als  Gambenspieler und als Gründer und Leiter der Musikgruppe Phantasm, zudem als Musikhistoriker , verfasste unter anderem Bücher über Bach und Wagner.

Das nun erschienene Buch wird als Roman bezeichnet, auf der Rückseite des Bandes gleich doppelt sogar als Wagner-Roman beworben, was es nicht ist, hat aber durchaus halbdokumentarischen Charakter oder gibt sich als historisch getreu aus, so durch immer wieder eingestreute Briefe zum Beispiel des Freundes Brahms oder des Lehrers Lachner, deren beider Freundschaft Levi seiner Verehrung für nicht nur Wagners Musik , sondern auch für den Maestro selbst opferte. Eine tiefe Verwurzelung des amerikanischen Autors, der mittlerweile in Berlin lebt, in der deutschen Kultur, wie viele Zitate Hölderlins, Novalis‘ oder von Platens beweisen, ist verbunden mit Verbitterung über die antisemitischen Schriften Wagners und Spott über dessen menschliche Schwächen, doch spielt der Komponist eher indirekt eine Rolle in dem Buch, in dem auch gewisse Aspekte jüdischen Lebens in Deutschlands durchaus kritisch gesehen werden. Manchmal erweckt der Autor den Eindruck, er wolle seinen Leser durch die Ausbreitung von Kenntnissen über das letzte Drittel des 19.Jahrhunderts geradezu überwältigen. Eine bedeutende Rolle spielt, und da tritt Fiktion in den Vordergrund, die Homosexualität, die in bezug auf Levi und Brahms nur in einem Traum des Ersteren und da mit Problemen behaftet erscheint, da der eine beschnitten ist, der andere jedoch nicht, oder im Verhältnis zwischen Levi und seinem Masseur und Diener, das ausgerechnet nach der einzigen Liebesnacht mit Anna Ettlinger dieser offenbar wird. Da Siegfried Wagner in der vom Autor beleuchteten Zeit noch ein Kind war, gibt er für dieses Thema wenig her, auch wenn seine späteren Betreuer, der Bühnenbildner für den Parsifal und dessen italienischer Freund, bereits eine Rolle spielen.

Über die Musik Wagners wird wenig gesagt, was wohl der Gattung Roman geschuldet ist, der Verzicht auf eine chronologische Gliederung und auf die strenge Bindung an einen einzigen Romanhelden, nämlich Levi, bringen Abwechslung, aber auch eine gewisse Unruhe in das Werk.

Das Buch wurde von Wolfgang Schlüter übersetzt, dem man Sorgfalt und die Nähe zum Autor unterstellen möchte, so dass manche den Kitsch nicht nur streifende Äußerung, manche gewagte Formulierung nicht ihm anzulasten, ja vielleicht vom Autor so und so wirkend gewollt ist. „Schmälen“ sollte man allerdings nicht für schmähen halten, „Beseelung“ nicht „über Gesichtszüge huschen“ und der „nächtliche Schoß des Verlangens“ lieber verschlossen bleiben. Und als erfahrener Musiker hörte Levi sicherlich mehr als Im Lohengrin Vorspiel als  „ungezwungene Schönheit“, fand das Vorspiel zu Tristan nicht nur „erstaunlich“ und Auszüge aus dem Ring nicht nur „unwiderstehlich“. Aber es handelt sich ja nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen „Roman“.    

Wer, dem Titel glaubend, etwas über Parsifal oder Wagner erfahren will, dürfte enttäuscht sein. Wen Hermann Levi und die Möglichkeiten jüdischen Lebens im Deutschland des späten 19.Jahrhunderts interessieren, kann sich auf eine spannende Lektüre gefasst machen (Faber & Faber 2022, 220 Seiten; ISBN 978 3 86730 226 5). Ingrid Wanja