Wiener Zeitzeuge

 

Hugo Reichenberger (1873-1938) war eine große Dirigentenpersön­lichkeit an der Wiener Hof- bzw. Staatsoper. Über 27 Jahre hindurch (1908-1935) hat er trotz katastrophaler Umbrüche der Zeit dem Opernbetrieb Kontinuität gegeben und maßgeblich das musikalische Profil geprägt. Zeitweise trug er die Hauptlast des Repertoires, was die Zahl seiner über 2000 Auftritte belegt. Daneben war Reichenberger auch als Konzertdirigent und Komponist tätig. Der dreifache Hofkapell­meister war um die Jahrhundertwende bereits an den Opernhäusern von Stuttgart, München und Frankfurt beschäftigt gewesen. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn gehören die Wiener Erstaufführungen zweier Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts: Richard Strauss‘ Oper Elektra 1909 und Leos Janáceks Oper Jenufa im Jahr 1918. (Quelle Edition Steinbauer)

 

Wahrscheinlich wäre es ihm eine Genugtuung gewesen, zu wissen, dass seine Enkelin einst ein Buch über ihn schreiben würde, das wissenschaftliches und Liebes-Werk zugleich ist, denn Hugo Reichenberger– Kapellmeister der Wiener Oper- fühlte sich zumindest in seinen letzten (zu Recht), aber auch den früheren Lebensjahren (teilweise zu Recht) ungerecht behandelt von seinem langjährigen Arbeitgeber, der Wiener Hof- und danach Staatsoper. Teresa Hrdlicka sah sich, so die Einleitung zu ihrem Buch, durch zweierlei Entdeckungen zum Schreiben veranlasst: die der handschriftlichen Eintragungen ihres Großvaters in das deutschsprachige Opernlibretto Max Brods von Janáčeks Jenufa und der des Skandals einer Liebschaft nicht ohne Folgen zwischen ihm und einer Primadonna, damals ein unerhörter Vorgang.

Die Autorin setzt einige Kenntnisse bei ihrem Leser voraus, wenn sie behauptet, ihr Großvater sei einer der letzten Kapellmeister überhaupt gewesen, ohne zu beschreiben, worin dessen besondere Qualitäten zu bestehen haben. Besser sind es um die Voraussetzungen für ein Verstehen des Buches bestellt, wenn von Hugo Reichenberger als einer Art musikalischem Wunderkind berichtet wird, das in zartem Alter bereits komponierte, mit siebzehn Jahren ein Schülerorchester leitete.

Das Buch zeichnet akribisch, durch viele Quellenzitate gestützt, die einzelnen Karrierestationen des Dirigenten nach von Bad Kissingen über Breslau (damals die drittgrößte Stadt Deutschlands), Aachen, Bremen und Stuttgart, wo die Liebschaft mit der Haussoubrette zur Entlassung führte. Viele Zitate aus Kritiken, Briefen und anderen Quellen sind nicht nur als Zeugnisse des Biographie eines Künstlers interessant, sondern mehr noch, weil sie viel über Zeit und Ort seines Wirkens verraten, so darüber, wie reich das Repertoire der damaligen Opernhäuser war und wie viele Uraufführungen man wagte. Auch Begriffe wie der des „Kavaliersintendanten“ werden dem Leser vertraut und die Tatsache, wie patriotisch, heute würde man es nationalistisch nennen, viele Juden wie Reichenberger fühlten, sichtlich stolz Uniform trugen, egal ob sie ihren Glauben beibehielten oder wie der Dirigent (aus Liebe zu seiner katholischen Frau) konvertierten.

reichenberger edition steinbauerInteressant ist Reichenberger für den heutigen Leser auch durch seine Nähe zu Richard Strauss und Gustav Mahler, durch die Gäste, die er nach den Stationen München und Frankfurt in Wien zu betreuen hatte, so Caruso, oder deren Ensemblemitglieder wie die Jeritza oder zeitweise Slezak. Das Ringen um die endgültige Fassung der Ariadne auf Naxos gehört zu den aufschlussreichsten Kapiteln des Buches, und wer wusste schon, dass die Ensemblemitglieder zur Traviata, damals als Violetta auf dem Spielplan, ihre eigenen Abendgarderoben mitbringen mussten. Zu den Aufgaben des Dirigenten gehörte auch die Beurteilung von neu eingereichten Opern, wobei sich Reichenberger in Bezug auf Puccinis Fanciulla ein krasses Fehlurteil leistete. Übrigens gab es bereits vor dem 1. Weltkrieg in Wien den Merker, aus dem die Verfasserin zitiert, ebenso aus den Artikeln von Julius Korngold, Vater des Komponisten, der Reichenberger nicht besonders wohlgesonnen war.

Die Entdeckung Janáčeks für Wien und die erfolgreiche Aufführung von Jenufa trotz der Spannungen zwischen Österreich und seinen von ihm abfallenden Satellitenstaaten in Wien sind Reichenberger tatsächlich hoch anzurechnen, und wichtig ist, was die Autorin darüber zu berichten weiß.

Das Buch gliedert sich im zweiten Teil nach den Intendanzen der Wiener Oper, von Weingarten bis 1911, danach Gregor bis 1918, Schalk/Strauss bis 1924, danach nur Schalk bis 1929 und schließlich Clemens Kraus bis 1934, Weingartner bis 1936. Durchgehend ist Reichenberger der übermäßig Beschäftigte, der immer willig Einspringende, der auf Proben verzichten Müssende, der im Februar 1935 erfährt, dass er pensioniert wird. Berührend ist sein Protestbrief dagegen, erstaunlich, dass er nach München, schließlich die „Hauptstadt der Bewegung“, zurückkehrt und auch in den kommenden Jahren wie zuvor nach Tegernsee, besonders judenfeindlich, in Urlaub fährt; beinahe schon für Erleichterung des Lesers sorgend, dass er vor der „Reichskristallnacht“ tot am Klavier zusammenbricht, Frau und Sohn den Krieg unbeschadet überstehen. Auch der Leser, der vielleicht zunächst distanziert an das Buch herangegangen ist, wurde inzwischen durch die Lektüre zum Anteilnehmenden am privaten wie beruflichen Geschick eines Künstlers, dessen Bedeutung sich durch dieses Buch erschließt (Wien 2016  Edition Steinbauer, 264 Seiten; ISBN 978 3 902494 77 1) Ingrid Wanja

 

Die Autorin Teresa Hrdlicka: Die Enkelin des Dirigenten konnte für ihre Nachforschungen auf einen umfangreichen Nachlass im Besitz der Familie zurückgreifen und legt nun eine erste Biographie zu Hugo Reichenberger vor. Geboren 1959 in Wien, Dr. phil.; Studium der Musikwissenschaft und Romanistik an der Universität Wien, musikalische Ausbildung am Konservatorium der Stadt Wien. Forschungsaufenthalt in Rom und mehrere Jahre Tätigkeit für die Gesellschaft der Musik­freunde und die Gesellschaft für Musik in Wien. Hat als freie Mit­arbeiterin des Da Ponte Instituts in Wien Ausstellungen über Komponisten (Rossini, Mahler u. a.) kuratiert. Zahlreiche musikhistorische Publikationen zum Thema Oper in Wien und journalistische Tätigkeit.

 

Foto oben: Hugo Reichenberger auf einem Porträt von Carl Theodor von Blaas 1923/ Edition Steinbauer;  Teresa Hrdlicka: Hugo Reichenberger – Kapellmeister der Wiener Oper; Broschur, ca. 240 Seiten, 30 Abb. Format: 16,5 x 23,5 cm ISBN: 978-3-902494-77-1 Preis: ca.€ 22,50/SFR 39,-; www.edition-steinbauer.com , dazu auch die website  www.hugo-reichenberger.de