Noch kein halbes Jahrhundert Lebens- und naturgegeben noch viel weniger Schaffenszeit hinter sich gebracht und schon Memoiren geschrieben, dazu noch mit dem an Grabesstille gemahnenden Titel Der Klang der Stille!? Philippe Jordan, neuer Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, zuvor u.a. der Pariser Oper und der Wiener Symphoniker, hat es getan und nicht nur sich selbst damit einen Meilenstein gesetzt, sondern dem Leser auch eine Fülle von Einsichten, Anregungen und eine immense Bereicherung an Wissen, an Möglichkeiten, Musik bewusster zu erleben, geboten.
Dabei ist von der Stille nur kurz am Anfang und danach erst wieder ganz am Schluss in einem recht kurzen , allerdings um so eindringlicher wirkendem Kapitel die Rede, spielt das Biographische eher eine untergeordnete Rolle, ist das ca. 250 Seiten umfassende, von Haide Tenner aufgezeichnete Buch in drei Teile gegliedert: einen chronologischen, relativ kurz die Biographie umfassenden, den umfangreichen zweiten, in Paris und Wien unterteilten, in dem auf die von Jordan aufgeführten Komponisten eingegangen wird, und einen abschließenden dritten, der thematisch gegliedert ist.
Im Vorwort wird bereits von ersten Begegnungen mit klassischer Musik berichtet, dann vom Musikunterricht, vom Eintauchen in eine andere Dimension, der Spannung zwischen der Stille im Publikum und dem Erklingen des ersten Tons der Musik. Schon hier wird deutlich, dass es dem Dirigenten um mehr geht als um seine Biographie und seine Karriereschritte, um die Vermittlung von spirituellen Erfahrungen, die erst durch Musik möglich werden.
Über Zauberflöte, Holländer, Rheingold und Parsifal vollzieht sich das Erleben von Musik, erleichtert dadurch, dass der Vater ein Dirigent ist, aber zugleich auch begrenzend insofern, als der Sohn es vermeiden wird, zu Lebzeiten des Vaters Werke aufzuführen, die er durch diesen kennen gelernt hat. Andererseits führt der Vater ihn in das Korrepetitorendasein ein mit einem Rosenkavalier am Chatelet. Lernen wird er nicht durch ein Studium, sondern durch Praxiserfahrung, dazu gehören auch Galeerenjahre wie die Verdis, wenn Jordan mit 21 Jahren in Ulm auch als Orchester- und Sängerpsychologe gefragt ist.
Besonders interessant wird es für den Leser, wenn er immer wieder auf Ausführungen stößt, die erkennen lassen, wie unzufrieden der Dirigent, und da wird er nicht der einzige sein, mit Regieleistungen ist, wie er sieht, dass die Arbeit von Orchester und Sängern unter ihnen leiden kann, wie hässliche Kostüme mitentscheidend sein können über den Misserfolg einer Produktion, dass Regisseure überzeugende Exposés einreichen und doch ganz andere Ergebnisse abliefern können. Jordan scheut nicht davor zurück, das in seinem Buch anzuprangern, aber hat offensichtlich, so beweist es die unsägliche Damnation de Faust in Paris, nichts Wirkungsvolles dagegen tun können. Ähnlich ist es um Konflikte, die ungeeignete Sänger auslösen, bestellt.
An dem Buch erfreut nicht nur die sympathisch uneitle, sachliche Darstellung, sondern auch das Eingehen auf technische Fragen, die den Leser interessieren könnten, so die des Auf-den Schlag-Spielen und das Hinter-dem-Schlag-Spielen oder die Charakteristika, die die Besonderheit einzelner Orchester ausmachen, die wesentlich abhängig sein können von den Forderungen der Dirigenten, so Barenboims an die Staatskapelle oder Harnoncourts an die Zürcher. Junge Dirigenten sollten sich des Autors Ratschlag, mit mittleren Häusern und dazu Gastspielen zu beginnen, zu Herzen nehmen.
Den Galeerenjahren folgen die Aufbau- und diesen die Pionierjahre, und es wird deutlich gemacht, welche Bedeutung jeweils jede dieser Epochen für die Entwicklung einer Künstlerpersönlichkeit hat.
Die beiden großen Hauptteile des Buches sind Paris und damit vor allem der Opernmusik und Wien und damit vor allem der konzertanten Musk und ihren hervorragenden Komponisten gewidmet, es werden aber auch Fragen wie Repertoire oder Stagione, Gäste oder Ensemble, Akustikprobleme der jeweiligen Säle oder ihre Baugeschichte erörtert.
Man erfährt viel und freut sich oft, so wenn für Puccini, von manchen verachtet, eine erfolgreiche Lanze gebrochen wird, man wundert sich manchmal, so wenn König Heinrich und die Seinen als kriegslüstern angesehen werden, aber man kann von einem Schweizer nicht verlangen, dass er weiß, aus welchem Grund der deutsche König gegen die Ungarn zog. Man fühlt sich bereichert durch die Ausführungen über das Rubato bei Wagner und Verdi, den französischen und italienischen Carlos, über die Bemerkungen über den Zeitmonolog der Marschallin und vieles andere.
Werdenden Dirigenten ist das Buch ganz besonders zu empfehlen, denn es mangelt ihm nicht an praktischen Ratschlägen, so zu Salome oder Pelléas, und auch die Anmerkungen über den Gebrauch des Taktstocks oder den Verzicht auf denselben sind erhellend.
Über Wagners Antisemitismus lässt sich nicht streiten, wohl aber darüber, ob Kundry, Alberich oder Beckmesser als jüdische Figuren angelegt wurden. Aber auch das zeichnet ein gutes Buch aus, dass es dazu Anlässe bietet, vor allem, wenn es Anspruchvollstes so klar und nachvollziehbar vermittelt, und wer die Meistersinger liebt, wird sich darüber freuen, dass Jordan an Sachsens Ansprache nichts Anstößiges entdecken kann.
Mit den Wiener Symphonikern hat Jordan viel Schubert, Bach, Beethoven, Brahms, Mahler, später auch Bruckner erarbeitet und vermittelt dem Leser, worauf es ihm dabei ankam, so auch darauf, das Orchesterprofil zu schärfen, gemeinsam zu atmen.
Das Buch schießt mit einem Vorausblick auf die neue Wiener Zeit mit der Staatsoper, an der er 7 Monate verbringen, 30 bis 40 Vorstellungen dirigieren wird. Mozart soll ein Schwerpunkt sein, ein Mozartensemble aufgebaut werden, und das Publikum soll jünger werden.
Es folgen noch kurze, aber inhaltsreiche Kapitel zum Handwerk des Dirigierens, zur Frage, ob es um Realisation oder Interpretation von Werken geht, zur Frage, was eigentlich Erfolg ist. Natürlich fehlt auch nicht der Appell, die klassische Musik angesichts von Dauerberieselung und zugleich Verdrängung aus den Schulen stärker zu fördern, und zum Titel zurück geht es mit einem „Ich wünsche uns allen mehr Stille in dieser lauten Zeit!“ (250 Seiten, Residenz Verlag 2020; ISBN 978 3 70173463 4). Ingrid Wanja