Mythos G. G.

Leider gibt es keinen Hinweis darauf, aus welchem Jahr das Cover des Buches Gustaf Gründgens von Thomas Blubacher im Henschel Verlag stammt und welche der zahlreichen Mephisto-Interpretationen auf ihm zu sehen ist, aber es scheint eher einen desillusionierten, gealterten Schauspieler darzustellen als die schillernde, sich im Verlauf der Karriere wandelnde Gestalt aus Goethes Faust,  die man mehr als alle anderen Rollen mit dem großen Schauspieler, Regisseur und Intendanten verbindet.

Das Buch ist sicherlich, wie der Untertitel behauptet, eine Biographie, aber es ist viel mehr und beginnt seltsamer Weise mit dem zunächst rätselhaft erscheinenden Tod Gründgens‘ in einem Hotel in Manila. Es endet mit seinem Aufbruch zu einer Weltreise, die ihm dabei helfen soll, „leben (zu) lernen“, also ein Versäumnis nachzuholen, als es offensichtlich zu spät dazu ist. Die ca. 350 Seiten dazwischen lassen den Leser erfahren, warum der Selbstmord, von dem man wohl ausgehen muss, Konsequenz eines nur überreich erscheinenden Lebens ist.

Darüber hinaus ist das Buch eine, wenn auch auf das künstlerische Leben verengte (aber doch auch einen Spiegel darstellend) Geschichte der letzten Jahre des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Nazizeit und der Adenauer-Zeit. Auf die ausführliche Geschichte der beiden Familien, aus denen der Künstler stammt, hätte man auch verzichten können, und sie ermüdet zunächst den Leser etwas. Erst im Nachhinein sieht er ein, dass die Wurzeln eines Lebens, auch um lange Zeit zurückverfolgt, aufschlussreich sein können.

Über die reine Biographie hinaus geht zwangsläufig auch die Theatergeschichte, die sich aus ihr erschließen lässt. Das zunächst noch bedauernswerte Image des Schauspielerberufs, die auf Berlin zentrierte Theaterlandschaft, die mit der Niederlage Deutschlands und seiner Aufteilung in Besatzungszonen dezentralisiert wird, die Vielfalt des Berliner Bühnenlebens und seine ökonomische Misere in der Weimarer Republik, die Rivalität zwischen Göring und Goebbels um die Herrschaft über die Theater, über Rundfunk und Film. Dabei ist es interessant zu lesen, wie sich die Belegschaft der ehemaligen preußischen Staatstheater unter Göring relativer Freiheit erfreuen durfte, nicht zuletzt durch das Einwirken seiner Schauspielerin-Ehefrau Emmy Sonnemann. Deren gute Beziehung zu Gründgens, der sie das Gretchen spielen ließ, führte später dazu, daß die Verleihung des ersten Bundesverdienstkreuzes an ihn zu einem Skandal ausartete. Der Leser erfährt einiges darüber, inwieweit ein Schutz von sogenannten Halbjuden, „jüdisch Versippten“ und jüdischen Ehepartnern von „Ariern“ möglich war.  Noch einmal erschreckend anzusehen ist die lange Liste der Künstler, die Deutschland ab 1933 verlassen mussten oder wollten. Einige der persönlichen Feindschaften, die Gründgens pflegte oder die ihm aufgezwungen wurden wie die zu seinem Ex-Schwager Klaus Mann, der ein entstelltes Bild von ihm in seinem Roman „Mephisto“ entwarf, haben durchaus auch politische Wurzeln. Das Thema „Gehen oder Bleiben“, die damit zusammen hängenden Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen, können in diesem Buch natürlich auch nicht fehlen.

Das Buch enthält nicht nur Theatergeschichte und -geschichten, sondern auch eine Darstellung des Wandels in der Aufführungspraxis, des Kampfes, den Gründgens ab den 50er Jahren für das konservative Theater als festliche Veranstaltung gegen das politisierende Hinterfragungstheater und andere Richtungen führte, so mit dem „Düsseldorfer Manifest“. Als weiterer Kontrast wird der zwischen Max Reinhardts sinnenfrohem Theater und dem Dumonts in Düsseldorf mit seinem priesterlichen Anspruch herausgestellt. Es ist außerdem ein „Who is who“ der deutschen Schauspieler, Regisseure und Intendanten. Staunen wird man immer wieder über den Reichtum an schauspielerischen Talenten und an Uraufführungen.

Zeitlebens musste Gustaf Gründgens mit der Angst umgehen können, dass ihm aus seiner Homosexualität Misshelligkeiten erwachsen könnten, denn diese war bis 1969 selbst zwischen einvernehmlich handelnden Erwachsenen unter Strafe gestellt. Zwei Heiraten (Erika Mann und Marianne Hoppe) und eine Adoption (des Lebenspartners Peter Gründgens-Gorski) änderten kaum etwas an der Bedrohung, zu der das sündenfrohe Berliner Nachtleben der Weimarer Zeit in einem sonderbaren Kontrast steht. Inwieweit der Intendant sich junge Schauspieler und damit Abhängige gefügig machte, kann nur vermutet werden, ebenso die „Schuld“ seines letzten Geliebten an seinem Selbstmord. Kaum anzuzweifeln ist jedoch, dass die Erpressbarkeit den Charakter zumindest mit geformt hat und manches Unverständliche und Launenhafte zumindest teilweise erklären mag.

Das Buch bietet eine Überfülle von Zeitzeugenaussagen, Kritiken, einen höchst umfangreichen kritischen Apparat und kann den Anspruch auf wissenschaftlichen Wert erheben, auch weil die Lebensgeschichte Gründgens‘ stets verflochten bleibt mit der Geschichte seiner Zeit. Diese führt ihn nach der Ausbildung in Düsseldorf nach Halberstadt, Kiel, Hamburg, Berlin und lässt ihn als Schauspieler, Regisseur (auch an der Scala, in Wien, Salzburg, Florenz) und Generalintendant arbeiten, führt ihn in ein Arbeitslager des NKWD, aus dem ihm Ernst Busch, dem er selbst geholfen hatte, heraus holt, dann wieder nach Düsseldorf und schließlich nach Hamburg. Dass er nach einem so reichen Leben meint, er müsse lernen zu leben, zeigt die Tragik des Gustaf Gründgens, der dem Leser nach der letzten Seite des Buchs eher bemitleidens- als beneidenswert erscheint.

Ingrid Wanja   

 

Thomas Blubacher: Gustaf Gründgens, Biographie, 432 Seiten, 54 s/w Abbildungen, Hardcover, Henschel Verlag, Leipzig  ISBN 978-3-89487-702-6