Wer hätte das gedacht, dass Robert Schumann und sogar Felix Mendelssohn Bartoldy ähnlich harte Worte für Giacomo Meyerbeers Opern fanden wie der vielzitierte Richard Wagner, nur von Seiten des auch Berliners, dazu noch weitläufig verwandten und eng verschwägerten Juden nicht öffentlich, sondern im reichhaltigen Briefwechsel mit Freunden und Verwandten. Dieser wird seit 2006 durch den Bärenreiter Verlag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Backe-Verlag wiederrum hat ein Buch von Thomas Kliche unter dem Titel Camacho und das ängstliche Genie – Innenansichten der Familien Mendelssohn und Meyerbeer herausgegeben, das zu einem großen Teil auf diesen Briefen fußt. Vorangestellt ist dem Text eine genealogische Graphik, die die vielfachen Verflechtungen, beginnend mit den Familien Oppenheimer und Guggenheim, zeigt; Heiraten zwischen Juden, auch getauften, und Christen waren nicht üblich, zumindest die Juden der gesellschaftlichen Oberschicht deshalb oft untereinander verwandt.
Das Buch fällt zunächst einmal dadurch auf, dass ein Widerspruch zwischen der streng wissenschaftlichen Arbeit mit umfangreichem kritischem Apparat und den häufig bewusst legeren Titeln wie Wie hältst Du’s mit der Religion, Eiseskälte, Geburtstage und Butterkuchen oder Von der Ratte und anderen Tieren zu bestehen scheint. Mit Ersterem wird der wissenschaftlich Interessierte bei der Stange gehalten, mit Letzterem der auf Unterhaltung Erpichte nicht verschreckt.
Im Prolog werden die bekanntesten Mitglieder der Familien hervorgehoben: Moses, Fanny und Felix Mendelssohn auf der einen und Amalia Beer und Giacomo Meyerbeer auf der anderen Seite. Die Familie Mendelssohn trat zum Protestantismus über, die Meyerbeers blieben semitischen Glaubens. Als Betty Meyer, eine Cousine von Felix, Heinrich Beer, einen Bruder Giacomos, heiratete, wurde sie wieder Jüdin. Für Giacomo war es ein schlimmer Schlag, dass seine Töchter zum Christentum übertraten. Gemeinsam waren, wie der Autor anschaulich schildert, beiden Familien das Streben nach Bildung als Voraussetzung zum gesellschaftlichen Aufstieg, der Geldhandel, die Wohltätigkeit und die Öffnung ihrer Salons für das kulturelle Berlin. Dazu waren sie ausgesprochen patriotisch gesinnt, wie die Meldung zweier Brüder Giacomos als Freiwillige in den Befreiungskriegen beweist. Die allererste Verbindung zwischen beiden Familien ist 1811, als der junge Jakob Meyer Beer Psalmen vertont, die Moses Mendelssohn einst übersetzt hatte.
Unerhört reich ist das Quellenmaterial, auf das der Autor sich stützen kann, und reichlich wird daraus zitiert. Viele Seiten werden dem Bruder Giacomos, Heinrich, gewidmet, dem enfant terrible seiner Familie, bei dem der Autor manisch-depressive Züge vermutet und der angeblich zehn uneheliche Kinder gehabt haben soll, was der Autor anzweifelt. Bei den Mendelssohns ist es das Versagen von Felix als Opernkomponist, das den ewigen Stachel im Fleisch der Familie bildet. Die Hochzeit des Camacho hieß das wenig erfolgreiche Werk, das seinem unglücklichen Komponisten den bösen Spitznamen bei der mit einem erfolgreichen Opernkomponisten gesegneten Familie eintrug.
Vereint waren die beiden Familien auch als Gründungsmitglieder des Königsstädtischen Theaters von Berlin, die Familie Beer leistete sich sogar einen eigenen Theater- und Konzertsaal, beide Familien wohnten an prominenter Stelle in Berlin, im Tode trennten sich ihre Wege wegen des unterschiedlichen Bekenntnisses. Nicht nur die Musik Meyerbeers wird im Hause Mendelssohn als Nachahmung Rossinis und als trivial empfunden, auch sein Charakter findet bei Felix‘ Mutter keinen Beifall, wenn sie ihn als „nickig, als schrullig und verdrießlich“ empfindet. Ihr Sohn sieht in dem erfolgreicheren Komponisten, zumindest was die Oper angeht, einen „Fahnenflüchtling und „Vaterlandslosen“. Robert le Diable und sein Riesenerfolg nicht nur in Paris kann da nur Öl ins Feuer gießen, wie Kliche anschaulich zu berichten weiß. Mendelssohn empfand das Werk als so anstößig, dass er beschloss, nur noch Kirchenmusik zu komponieren. Gespenstisch mutet es an, wenn man im Urteil Mendelssohns über Meyerbeer Vorwürfe findet, die später die Nazis gegen denselben erhoben. Mendelssohn verschonte das allerdings nicht vor ihrem Hass. „Sein Herz ist nicht dabei“, heißt die vernichtende Sentenz. Die Abneigung gegenüber dem Erfolgreichen geht so weit, dass sich Mendelssohn die Locken abschneiden lässt, um ihm nicht zu gleichen. Das alles wird höchst plastisch und stets akkurat mit Zitaten belegt vor dem erstaunten Leser ausgebreitet. Gemeinsam ist beiden Komponisten die Abneigung gegenüber Berlin, wo man sich ungerecht beurteilt fühlt. (Mendelsssohn: „Die Leute sind kalt, maliziös und setzen eine Ehre darin, nie zufrieden zu sein“) Trotzdem bleibt Meyerbeer für Mendelssohn der „Todfeind“, auch wenn man sich bei zufälligen Begegnungen Höflichkeiten sagt. Das Urteil Meyerbeers über Mendelssohns Musik fällt differenzierter aus als das der Familie Mendelssohn über die seine. 1836 zeigt sich, wie weit auseinander gedriftet beider Wege sind: Meyerbeers Hugenotten und Mendelssohn Paulus werden uraufgeführt. Während die Verwendung des Luther-Chorals Meyerbeer von vielen Seiten her angelastet wird, findet bei Mendelssohn niemand etwas dabei.
Es gibt nur einen einzigen überlieferten Brief Mendelssohns an Meyerbeer, wie der Autor berichtet. Er dürfte symptomatisch für ihr Verhältnis sein, denn es ist eine Absage. Felix will sich nicht mit einer Spende für die Erhaltung des Grabes von Gluck beteiligen. Am Schluss des Buches wird die Quellenlage geklärt, auf die Meyerbeer-Biographie des Ehepaars Henze-Döhring und andere Sekundärliteratur hingewiesen, die Lage der Juden in Preußen erörtert. Lebensdaten der Komponisten und Literaturhinweise und ein Personenregister ergänzen den aufschlussreichen Band (ISBN 978 3 981 4873 7 4).
Ingrid Wanja