Wie konnte es passieren? Wie war es möglich, dass Giacomo Meyerbeer, jener Opernkomponist, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Verdi und Wagner am meisten gespielt wurde (und danach der am meisten gespielte neben ihnen war), ein Fall für das Raritätenkabinett geworden ist? Jean-Philippe Thiellay hat auch keine Antwort auf diese Frage, die seit längerem die Meyerbeer-Biographen quält, aber er ist dazu berufen, sich mit dem Phänomen Meyerbeer zu beschäftigen. Der 1970 geborene Thiellay ist zwar Politologe und Mitglied des französischen Staatsrates, gleichzeitig aber nicht nur erklärter Opernfan, sondern auch Stellvertretende Generaldirektor der Pariser Oper. Er ist somit für jenes Haus mitverantwortlich, das Meyerbeer ab 1831 einige der größten Erfolge in der Operngeschichte überhaupt verdankt, die dann auch von Dauer waren (1903 wurden die Huguenots in Paris zum 1000sten Mal gespielt!).
Thiellay kann darüber hinaus gut schreiben. Die Herausforderung, Leben, Werk und Mythos Meyerbeers in lediglich 130 Seiten im Kleinformat bei Actes Sud zu beschreiben, hat er angenommen, und das Büchlein liest sich ausgezeichnet. Thiellay ist kein Panegyriker. Zwar hegt er durchaus Sympathien für den Lebensweg von Meyerbeer, der sich in Italien, Frankreich und Deutschland glänzend durchsetzte, dabei jedoch immer verhältnismäßig bescheiden lebte, eine politisch und religiös liberale Gesinnung vertrat und gegenüber Kollegen sehr großzügig war (etwa gegenüber Heine und Wagner, die später über ihn Beschämendes veröffentlichten). Doch macht Thiellay zu Recht darauf aufmerksam, dass Meyerbeer seine Erfolge regelrecht konstruierte, indem er seine Premieren akribisch bis ins letzte Detail vorbereitete, Unsummen dafür ausgeben ließ und nicht vor Mitteln zurückscheute, die in der Zeit (und später noch) gang und gäbe waren und dennoch ein schräges Licht auf den Opernbetrieb werfen: Meyerbeer bezahlte selbstverständlich die Claque, aber auch die Journalisten, die über ihn berichteten. Thiellay geht bei der Beschreibung von Meyerbeers Werdegang chronologisch vor. Dem vielbeschäftigen Mann wird man einige Versehen nachsehen: die Humboldt-Universität wurde etwa 1810 gegründet und trägt diesen Namen erst seit 1949. Solche Petitessen wird man ihm aber nachsehen, weil der Autor sonst aus erster Hand berichtet, indem er die Korrespondenz Meyerbeers heranzieht. Und im Gegensatz zu manchem anderen Verfasser gelehrter akademischer Bücher hat Thiellay seine Leser immer klar vor Augen: er wendet sich an die Musikbegeisterten und die Operngänger, die seit einigen Jahren den Werken Meyerbeers auf der Opernbühne wieder begegnen können.
Die Publikation enthält deswegen neben einer Chronologie auch eine Disko- und eine Videographie sowie eine Bibliographie. Sie wird sogar durch ein Register abgerundet. Thiellays Buch schließt mit einem knappen, aber leidenschaftlichen Plädoyer für Meyerbeer (S. 141-146), in dem der Autor indes unfreiwillig eine mögliche Ursache für die zögernde Reaktivierung der Opern Meyerbeers angibt. Thiellay meint, ein solcher offener, toleranter Geist, dessen Karriere gesamteuropäisch verlief, verdiene es doch, dem heutigen Publikum vorgestellt zu werden. Nur sind Toleranz und Kosmopolitismus keine musikalischen Eigenschaften. Es zeigt sich doch immer wieder, dass Meyerbeers Opern heutzutage darunter leiden, dass sie moderne Hörer nur bedingt musikalisch erreichen, unter anderem wegen einer gewissen melodischen Schwäche, und jedenfalls kaum dann, wenn sie der spektakulären Bühneneffekte beraubt werden, die Bestandteil der Werke sind. Wer sich einmal Robert le Diable, die Huguenots oder den Prophete auf Platte von Anfang bis zum Ende angetan hat, weiß, wie das gemeint ist. In Zeiten von historisch ungebildeten und nicht selten werkfern denkenden Regisseuren, die für ein medial gesättigtes Publikum inszenieren, das schon alles und noch mehr im Kino und im Fernsehen gesehen hat, wird es Meyerbeeer weiterhin schwer haben. Das heißt nicht, dass man es nicht versuchen kann, und Thiellay liefert mit dieser empfehlenswerten Biographie einen überzeugten und überzeugenden Beitrag dazu (Jean-Philippe thiellay, Meyerbeer. Arles: Actes Sud 2018, ISBN 978-2-330-10876-2). Michele C. Ferrari