Galerenjahre… für Verdi

„Dienen, dienen“ ist Kundrys letztes Wort, für das die Sängerin im Parsifal einen ganzen Akt lang auf die Bühne muss, und „dienen“ ist laut seinem letzten Satz auch das Bestreben Riccardo Mutis in Bezug auf Giuseppe Verdi, über den der Dirigent ein Buch mit dem Titel „Mein Verdi“ geschrieben hat. In ihm gibt es auch ein Kapitel „Verdi und Wagner“, in dem gar nicht nett mit dem Auch-Geburtstagskind umgegangen wird, wenn seine Verehrer in Bayreuth als Zombies mit stechendem Blick beschrieben werden und seine Musik – immerhin – als Droge bezeichnet wird. Überzeugt zeigt sich Muti davon, „dass die Menschheit in Zukunft Verdi dringender braucht als Wagner“. Gar nicht nachvollziehen kann er die Aussage von Carlos Kleiber, der zu ihm sagte, er möge als Dirigent am Pult glatt sterben, wenn die Musik bei Brünnhildes Erwachen oder am Ende der Götterdämmerung so zärtlich werde. Muss er auch nicht, denn sein Buch ist schließlich  nicht Wagner, sondern Verdi gewidmet.

Herausgeber und Mitautor Armando Torno schildert in der „Vorbemerkung“ die Arbeitsweise Mutis bei der Entstehung des Buches, zu dem der Dirigent die Idee hatte. „Werktreue“ wird bereits an dieser Stelle als oberstes Prinzip hervorgehoben und die heutige Aufführungspraxis kritisiert.

Jedem der Kapitel ist ein Zitat aus einer Verdi-Oper vorangestellt, auch der „Vorrede“ Mutis, in der er Verdi als den „Komponisten des Lebens“ und zugleich als den „Komponisten meines Lebens“ apostrophiert. Er äußert die Meinung, in jeder Verdi-Oper sei eine Figur Verdi selbst, drücke sich der pessimismo verdiano aus. Allerdings  ist es seltsam, daß dies im Simon Boccanegra Fiesco sein soll, der dann aber mit „Perfin l’aqua del fonte è amaro“ zitiert wird.

Muti blickt zurück auf seine ersten Eindrücke von Verdis Musik, mit der er bereits als Dreijähriger in Aida bekannt gemacht wurde, auf seinen Lehrer Antonino Votto, der nicht nur auswendig dirigierte, sondern auch ohne Partitur die Proben leitete. Später erwähnt er auch kurz Furtwängler (positiv) und Karajan, der ihn förderte und den er (das steht nicht im Buch) mutig gegen unbegründete Beschuldigungen Daniel Orens (auch er von Karajan gefördert) in Schutz nahm.

Seine erste Oper als Dirigent war ebenfalls eine solche von Verdi: I Masnadieri in der Regie des Deutschen Erwin Piscator – später lobt Muti neben vor allem Giorgio Strehler auch Werner Herzog für seine Regiearbeit.

Interessant sind die Ausführungen über die unterschiedliche Instrumentierung der Verdi-Opern, über die Herabsetzung des Kammerton a für Otello, den Umzug der Orchester in den golfo mistico, was sich ebenfalls auf das Hörergebnis auswirkte. Immer wieder aber klingt auch Resignation durch, so wenn Muti bedauert, dass heute das Sehen wichtiger als das Hören sei, letzteres kaum noch Bedeutung habe.

Seine Strenge gegenüber acuti-besessenen Tenören, aber auch gegenüber anderen Sängereitelkeiten begründet er mit der Aussage Verdis, Dirigenten und Sänger könnten und sollten nie kreativ sein. Auch das Wiederaufmachen von Strichen ist ihm ein Anliegen, so im ungekürzten Guglielmo Tell. Nachvollziehbar ist sein Kampf nicht nur gegen ein C in der Manrico-Stretta, sondern besonders gegen ein H, denn das Transponieren zugunsten des Tenors verändere durch den Tonartenwechsel das gesamte Klangbild. In diesen Passagen schimmert der Humor durch, den Muti durchaus auch angesichts so mancher menschlicher Schwäche bei seinen Mitarbeitern hat.

Hochinteressant sind die Ausführungen über die von ihm bekämpfte Aufführungspraxis anhand einiger Beispiele nicht nur aus Trovatore, sondern auch Ballo und Rigoletto. Das Gelächter des Jago nach seinem Credo ist ihm ein Graus. Aber auch die Sklaven einer puristischen historisch getreuen Umsetzung sind ihm einigen Spott wert. Es wundert den Leser allerdings etwas, dass gerade Muti sich bescheiden als Handwerker, nicht etwa als Künstler bezeichnet, während man seinen Spott über Dirigenten, die nicht gut Klavier spielen können, durchaus nachvollziehen kann. Die Traviata mit seiner Klavierbegleitung an der Scala ist natürlich auch ein Thema.

Über das Verhältnis Verdis zu Glauben und Kirche schreibt Muti mit Hinweis auf die geistlichen Werke des Komponisten, so über den Zweifel, ob der Schluss des Requiems im  glaubensfrohen C oder etwa doch in der Dominante des düsteren f-Moll gehalten sei. Den deutschen Leser stört es etwas, dass Muti bei seinen Ausführungen über Don Carlo tut, als hätte es Schillers Drama als Vorlage nie gegeben.

Während gerade in letzter Zeit in vielen Publikationen die Bedeutung Verdis für den Kampf um die Einheit Italiens sehr zurückhaltend beurteilt wird, hält Muti an den alten Vorstellungen vom Einfluss des „Va pensiero“ und vom engagierten Politiker Verdi fest. Auch am Bild vom „gewitzten Bauern“ lässt er nicht kratzen. Aber die Mameli-Hymne hält er für geeigneter als Nationalhymne als den Gefangenenchor.

Muti vertritt die Meinung, dass die lange Schaffenspause des Komponisten von den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern deutscher und denen italienischer Musik zu verantworten ist. Sicherlich nicht jeder Leser  wird ihm bei der Behauptung, das Liebesduett in Otello sei nicht erotisch, folgen können, wohl aber bei der Einschätzung der Liebe von Nanetta und Fenton im Falstaff, den er Così fan tutte gleich setzt in seiner fast überirdischen Heiterkeit. Wenn es nach Muti geht, müssen Moslems auch in Zukunft das „Esultate“ und was darauf folgt aushalten können – aber sie haben wahrscheinlich bisher noch gar nicht davon Kenntnis genommen.

Riccardo Muti, der fast alle Opern Verdis bereits dirigiert hat, möchte auch noch die restlichen – außer der seiner Meinung nach mit Längen behafteten Luisa Miller – seinem Repertoire zufügen. Der Leser wünscht es ihm von Herzen.

Ingrid Wanja   

 

Riccardo Muti – Mein Verdi (übersetzt von Michael Horst); Bärenreiter/Henschel, 176 Seiten, Fotos, register,  ISBN 978-3-7618-2344-6/ 978-3-89487-929-7     Geburtstagsgabe