Ein Ost-Deutsches Sängerleben

 

Dem Mimen flicht die Nachwelt zwar keine Kränze, dem Sänger jedoch verhilft youtube zu einigem späten Ruhm, und so ist es fast unglaublich, dass ein Heldentenor, der zwar 25 Jahre lang an einem „Provinztheater“ wie dem Dessauer alle großen Wagnerpartien und die italienischen dazu sang, der aber auch Gastspiele an den großen Bühnen in Berlin, Leipzig, Dresden und Wien gab und berühmte Partnerinnen wie Erna Schlüter oder Frida Leider hatte, mit keiner einzigen Aufnahme vertreten ist.  Dabei ist in dem Roman seines Lebens, den er selber schrieb und der jetzt von Ernst A. Chemnitz als Die Wolfserzählung, Lebenserinnerungen des Dessauer Heldentenors Dr. Horst Wolf herausgegeben worden ist, oftmals von Tonaufnahmen die Rede, die angefertigt wurden und die vielleicht noch vorhanden sind. Es geht um Horst Wolf, im Buch penetrant als Dr. Wolf tituliert, denn er hatte als Ingenieur promoviert, der als Max 1938 in Anwesenheit Adolf Hitlers das neue Dessauer Haus einweihte, 1949 als das im Krieg zerstörte und wieder aufgebaute Theater wieder eröffnet wurde, mit dem Pedro sein 25. Bühnenjubiläumfeierte. Im Vorwort wird auch nicht verschwiegen, wie es  1940 zur NSDAP-Mitgliedschaft des Tenors kam, die diesem „unangenehm“ war, und damit wird zugleich das zweite große Thema neben der Lebens- und Karrieregeschichte Horst Wolfs offenbar: der tragisch-lächerlich anmutende Versuch, abseits von politischen Verstrickungen eine künstlerische Existenz zu verwirklichen. Wahrscheinlich hoffte der Sänger auf eine Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte in der DDR, und so ist zu verstehen, dass der Mauerbau lediglich Erwähnung findet, weil dadurch eine Reparatur seines Aufnahmegeräts unmöglich wurde, die Beendigung des Prager Frühlings bedeutet für den Verfasser lediglich, dass er seinen Urlaub im nun gesperrten Grenzgebiet nicht antreten kann, der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 schließlich ist lediglich ein Streik mit lästigen Auswirkungen.

Was nun das Dritte Reich und seine „Bewältigung“ durch den Verfasser angeht, liegt im Text ein Stolperstein von historischen Ausmaßen, wenn er beschreibt, dass sein Bruder beim Rückflug nach Danzig am 28. 8. 1939, also drei Tage vor Kriegsbeginn, von polnischem Militär beschossen worden sei, dass er diesen Sachverhalt (?) geradezu trotzig mit einem „denn mein Bruder saß in dem Flugzeug“ bestätigt. Ironie des Schicksals ist es, dass nach 1945 ausgerechnet eine Hakenkreuzfahne, die beim Bombenangriff aus ihrer Kiste auf den Dachfirst des halb zerstörten Hauses geflogen war, die Entnazifizierung, die offensichtlich in Dessau recht lasch betrieben wurde, erst einmal verhinderte.

Zwar kann das Buch zunehmend das Interesse am Schicksal des Menschen und Sängers Horst Wolf wecken, im Vordergrund dürfte jedoch das an dem Problem der Unvereinbarkeit von makelloser Reinheit und Karriere in zwei Systemen sein.

Das Buch gliedert sich in Lebensalter-Kapitel, angefangen mit Das Kind, endend mit Der Greis, welches verständlicherweise die knappsten Abschnitte sind. Durchweg überzeugt das Buch durch die Vielfalt an privaten wie Künstler-Fotos, durch die vielen Anmerkungen durch den Herausgeber und den reichhaltigen  Anhang.

In der Einleitung zeigt sich der Verfasser nicht nur durch den betulich-beschaulichen Stil als Kind seiner Zeit, sondern auch durch die Auffassung, dass ein dauernder Kampf als notwendig für die menschliche Reife angesehen wird. Das Kind (1894 bis 1904) schildert mit vielen literarischen Beispielen geschmückt die Schulzeit in Zwickau, wo er das Robert-Schumann-Gymnasium besucht. Wie in der Feuerzangenbowle geben sich die Lehrer, deren Portraits Der Jüngling entwirft, dazu ist vom Altisten im Kirchenchor und von Gesangsstunden die Rede, vom Gymnasiasten, der bereits Wagnerpartien einstudiert, aber noch interessanter sind Einblicke in die Zwänge, die damals herrschten, wenn ein Sohn aus einem Geschäftshaus nicht Offizier werden konnte, Anstandsbesuche Pflicht waren, vor dem Gesangsstudium die Promotion stehen musste. Von 1914 bis 1924 reicht das Kapitel Der junge Mann, der mit 20 als Kriegsfreiwilliger bereits 60 Mann kommandiert, der als bejahrter Verfasser noch vom „Heldentod“ spricht, der mit einer für immer lahmen linken Hand aus dem Krieg zurückkehrt und von Anfang an Kritiken sammelt, die in großer Zahl im Buch abgedruckt worden sind.

Der Mann wird als Sänger in Stralsund, Dessau, Rostock und wieder Dessau hart gefordert, singt alles und alles durcheinander von Chateauneuf bis Tannhäuser, von Wildschütz bis Götterdämmerungs-Siegfried und auch drei Premieren in einer Woche, sonntags auch schon mal zwei Vorstellungen, führt dazu noch Regie, was damals als Stellprobe bezeichnet wird, und lernt die Tücke von Vorverträgen kennen. 1927 wird er Freimaurer und versucht später, dies als Grund vorzuschieben, nicht in die Partei eintreten zu können. Die Nazipresse ist ihm feindlich gesonnen, weil sie ihn für einen Juden hält, aber besonders interessant ist für den Leser zu lesen, worauf damals in den Opernkritiken Wert gelegt wurde. So ist oft nicht der fast Dauerstreit mit Intendanten das Wichtigste für den Leser, sondern Spielplangestaltung, Kriterien der Sängerbeurteilung, Stil der Kritiken (für einen langen Zeitabschnitt fast ausschließlich aus dem Anhalter Anzeiger und wie Hofberichtserstattung klingend), die ihm zur Quelle für die Beurteilung der damaligen Zeit werden, für die Horst Wolf Zeuge ist.

Für den Mann in den besten Jahren dreht sich weiterhin alles um seine Karriere, geht es mehr um Durchhaltevermögen und Erfolg, um dauernd absagende lyrische Tenöre, über seine Ansichten über die vielen Rollen, die er singt, liest man kaum etwas, der Krieg bedeutet zunächst nur volle Bahnen und geschlossene Restaurants nach der Vorstellung. Die  Machtergreifung ist weniger wichtig als die Striche oder Nichtstriche in den Partien, die zu singen sind. Wäre das Sekundärliteratur, müsste man das Buch tadeln, als Quelle für die Darstellung eines „normalen Lebens“ auch im Krieg und in einer Diktatur ist es hochinteressant. Gastspiele in besetzten Gebieten werden nicht als heikel angesehen, auch nicht Wehrmachtstourneen, und nach zwei Angriffen auf das Opernhaus, wird gemeinsam wacker aufgeräumt.

Der gereifte Mann durchlebt die Jahre 1944 bis 1954, der 20. Juli 44 ist das Datum des 3. Luftangriffs auf Dessau, nicht des Attentats auf Hitler, die Amis sind bemerkenswert, weil sie nach Leicas forschen, die Sowjets, über die kein böses Wort verloren wird, bringen die Junkers-Leute in die Sowjetunion. Die 40 Vorhänge nach Undine, die er inszeniert hat, sind wichtiger als alle politischen Entscheidungen, die das Leben der Menschen beeinflussen aber „ich bin immer Idealist gewesen und ich wollte Freude und Erbauung schenken“ sind die Motti des Sängers, und wie gesagt, wahrscheinlich rechnete er mit einer Veröffentlichung in der DDR. Leise Kritik gibt es am Verbot des Auftretens von Kaiser Franz Joseph im Weißen  Röss’l und des Zarenlieds in Lortzings Oper. 1953 singt Horst Wolf seinen 100. Tannhäuser und seinen 100. Lohengrin und nach schwerer Krankheit wieder Tristan, Stolzing bei der Einweihung des Bitterfelder Kulturpalasts und die Titelpartie in Erkels Bánk Bán. 1956 bei den damals renommierten Wagner-Festspielen in Dessau hat er Tristan, Tannhäuser, Lohengrin, Loge, Siegmund und Götterdämmerungs-Siegfried auf dem Programm, gibt sich bei Ärgernissen mit Dirigenten gelassen, ist es aber nicht. Mit 70 Jahren singt er noch sieben Tannhäuser, Der Greis (1964-80) veranstaltet Liederabende, auch von Selbstkomponiertem, mit 75 Jahren imponiert er mit einer „tadellosen“ Winterreise, zum Jubiläum 25 Jahre wiederaufgebautes Dessauer Theater  notiert er mit Genugtuung, dass der Intendant an seinen Tisch gesetzt wurde- oder war es umgekehrt? Mit 80 Jahren nimmt er seine noch immer intakte Stimme auf einem Tonband auf. Wo mag es sein? Mit 86 Jahren stirbt er 1980 nach einem Brand in seinem Haus, in dem seine zweite Frau umgekommen war. Die Leserin ist berührt von diesem Leben in schwierigen Zeiten und in einem ständigen Kampf um Anerkennung einer immensen künstlerischen Leistung. Der Anhang besteht aus Rollenverzeichnis, Rollendebütverzeichnis, Gastspielorten, Operninszenierungen (416 Seiten, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad 2020; ISBN 978 3 95755 657 8). Ingrid Wanja