Drei Leben für die Oper

Den Opernliebhabern ist Antonio Ghislanzoni (1824-1893) vor allem als Verfasser der Aida für Giuseppe Verdi bekannt, das indes nur eines von rund 60 Textbüchern war, die er für eine Reihe von Komponisten à la mode verfasste. Im Jahre 1871 etwa, als Verdis Meisterwerk in Kairo uraufgeführt wurde, arbeitete er auch mit Antonio Cagnoni (1828-1896) und Gaetano Braga (1829-1907) zusammen, aber auch Catalani (Edmea), Gomes (Fosca und Salvator Rosa), Petrella (Giovanna di Napoli und Promessi sposi, womit sich Ghislanzoni an die Verarbeitung des gleichnamigen Romans von Italiens Nationalglorie Alessandro Manzoni heranwagte) und Ponchielli (Parlatore eterno, Lituani, eine Donizetti-Gedenkkantate und die unvollständig nachgelassenen Mori di Valenza) vertonten seine Verse.

ghislanzonibuchWeit weniger erforscht ist Ghislanzonis Leben über jenes als Librettist hinaus, nämlich als Sänger und als freier Schriftsteller. Indem Pacifica Artuso ihr Buch diesen beiden anderen Wirkungsgebieten Ghislanzonis widmet, füllt sie eine echte Lücke. Der erste Teil des Buches („Il baritono“, S. 13-76) verdient besondere Aufmerksamkeit. Darin wird die kurze Karriere Ghislanzonis als Bariton dargestellt. Sie begann 1847 in Lodi (40 km südlich von Mailand) mit dem Debut in der Luisa Strozzi des obskuren Komponisten Gualtiero Sanelli  (1816-1861) und endete abrupt , als Ghislanzoni 1855 in Mailand (in Teatro Carcano, nicht an der Scala) in Nicolais Templario ausgebuht wurde. Er war ein zweitrangiger Sänger, der mit wenigen Ausnahmen dazu verdammt war, schlecht bezahlte Engagements bei provinziellen Bühnen zu ergattern. Aber die Darstellung dieser wenigen Jahre, die Artuso mit akribisch zusammengestellten Quellen rekonstruiert, ist deswegen besonders spannend geraten, weil dadurch dem Leser auch die Schattenseiten der Opernindustrie im Goldenen Zeitalter vor Augen geführt werden, einer bunten Welt, in der sich allerlei Menschenschlag tummelte (ganz anders als heutzutage, versteht sich): zahllose schlecht ausgebildete Sänger, die nach wenigen Jahren ihre Stimme verloren (Ghislanzoni gehört wohl auch zu dieser Kategorie), rücksichtslose impresari und skrupellose Agenten (in jener  Zeit entstanden die Künstleragenturen modernen Zuschnittes, über die er schon damals Amüsantes zu berichten hat) und – so zumindest in Ghislanzonis Urteil – auch eine Horde von mäßig begabten Komponisten, deren Ehrgeiz in keinem Verhältnis zu ihrem Talent stand. Spätestens bei der Lektüre solcher Passagen  schlägt der Puls des Raritätensammlers höher, der sich heutzutage über jede Ausgrabung aus dem Ottocento freut und nun einsehen muss, dass Ghislanzoni manche dieser Wiederauferstehungen (etwa der Opern Paolo Carrers) in höchstem Masse überrascht hätte. Der zweite Teil des Buches („Gli artisti da teatro“, S. 76-125) ist einem weiteren Leben Ghislanzonis gewidmet, jenem als freier und äußerst produktiver Schriftsteller. In seinen Veröffentlichungen kam Ghislanzoni selbstredend gerne auch auf musikalische Sujets zu sprechen. Die Autorin stellt hier einen umfangreichen Roman über die Oper vor, die „Artisti da teatro“, 1865 veröffentlicht , in denen Ghislanzoni Selbstbiographisches, Historisches (so wenn er sachkundig über berühmte Sänger der Zeit berichtet) und Fiktives vermischt. In Artusos Darstellung sieht es fast so aus, als ob die tragische Geschichte der unglücklichen Liebe eines Tenors und eines Soprans, welche dem Roman zugrundliegt (und, wie es scheint, selbstironisch melodramatisch angelegt ist), eigentlich nur ein Vorwand war, um zum Opernbetrieb der Zeit Stellung zu nehmen. Bei der Lektüre von Artusos Ausführungen bekommt man große Lust, den ganzen Rom zu lesen, der offenbar nie in seiner Gesamtheit nachgedruckt wurde (er ist als Digitalisat über Google jedoch verfügbar). Wäre eine Neuedition nicht eine schöne Aufgabe für einen jungen Musikwissenschaftler, der außerhalb ausgetretener Pfade forschen möchte? Weniger interessant fand schließlich der Rezensent Artusos Beobachtungen zu Ghislanzoni und Verdi im dritten Teil des Buches („Verdi visto da Ghislanzoni“, S. 126-158). Pacifica Artuso ist insgesamt kein großer Wurf gelungen. Einige Leser werden sich über den disparaten Charakter dieser Publikation aufregen, die eher einer Aufsatzsammlung als einem durchkonzipierten Buch ähnelt; andere werden schmerzlich ein Register vermissen, wodurch die Fülle von Informationen zu Komponisten und Künstlern der Zeit, die geboten werden, nicht leicht greifbar sind; und niemand muss schließlich die Begeisterung der Verfasserin für den logorrhöischen Schriftsteller Ghislanzoni teilen. Er gehörte zur damaligen literarischen Avantgarde (der lombardischen Scapigliatura), aber seine Erzählungen und Romane sind oft literarische Ergüsse eines ungepflegt schreibenden Schreiberlings, der zum Überleben unentwegt veröffentlichen  musste. Trotzdem sei dieses Buch vor allem wegen der beiden ersten Kapitel allen Liebhabern der italienischen Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfohlen.

Michele C. Ferrari

Pacifica Artuso, Antonio Ghislanzoni, non di solo Verdi…, 164 Seiten, Abb., Varenna, EurArte Edizioni 2013, ISBN 978-88-95206-32-5