Manche werden sich noch an den bizarren Film von Ken Russell über die Tänzerin Isadora Duncan (1877 – 1927) erinnern, in dem Vivian Pickels nicht nur nackt durch Wiesen tanzte, sondern einen grausigen Tod durch Erwürgen fand, als sich ihr langer weißer Schal in den Speichen ihres Sportwagens verfing. (Karel Reisz drehte ebenfalls einen Film über die Tänzerin mit Vanessa Redgrave in der Titelpartie.). Isadora Duncan war eine bemerkenswerte, emanzipierte und mutige Frau in jeder Hinsicht, und ihre Erinnerungen, kurz nach ihrem Tod 1927 als „My Life“ erschenen, sorgten für kleine Erschütterungen, war doch ihre Leben ein Kaleidoskop von Affären, Begegnungen und Triumphen. Isadora Duncan gilt als Wegbereiterin des modernen Tanzes und macht im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts vor allem in Europa und der russischen Sowjetrepublik Karriere. Sie tanzt auf vollkommen neue Art unter Rückbesinnung auf die Antike zu den großen klassischen Werken der Musik und schockiert ihr Publikum mit entblößten Armen und Beinen. Mit einem der Erben des Singer Nähmaschinen-Imperiums verbindet sie eine langjährige Beziehung, aus der ein Kind hervorging, aber heiraten will sie nicht. Zwei weitere Kinder gab es aus anderen Beziehungen. Die unkonventionelle und bildschöne Künstlerin lehnt sich gegen die bürgerlichen Konventionen auf und engagiert sich für die Rechte der Frauen. Nun sind im Berliner Parthas Verlag ihre Erinnerungen in deutscher Sprache erschienen. G. H.
Noch interessanter als das Buch selbst liest sich das Nachwort zu den Memoiren von Isadora Duncan I’ve only danced my life, denn in ihm wird der Leser vorbereitet auf den blumigen Stil der Autorin, auf ihre Versuche, zu beschönigen, zu unterschlagen und nicht nur auf dem Gebiet der Liebe die Verantwortung für Missgeschicke abzugeben nach dem Motto:“ Die Wankelmütigkeit der Männer und die Grausamkeit des Schicksals“ sind schuld an allem. Ute Astrid Rall ist nicht nur die Übersetzerin aus dem Amerikanischen ins Deutsche, sondern auch die Kommentatorin und Fortsetzerin der Lebensgeschichte um das Kapitel „Russland“, das die Tänzerin wohl deswegen nicht schreiben mochte, weil sie, der Prototyp einer „Edelkommunistin“, um den dringend benötigten finanziellen Erfolg des Buches außerhalb Russlands fürchten musste. Dabei waren wohl die drei russischen Jahre der Duncan ihre glücklichsten, als Lenin zu ihrem Publikum gehörte, Stanislawski sie unterstützte und Lunatscharsky ihren ewigen Traum von einer Schule, in der sie ihre Lehren weitergeben konnte, unterstützte. Hier spielte sich auch eine der leidenschaftlichsten ihrer vielen Affären ab, die mit dem Dichter Jessenin, den sie in den Westen und letztendlich damit in den Selbstmord entführte. Bei aller Distanz vergisst die Kommentatorin aber auch nicht die Verdienste der Duncan, vor allem natürlich um die Entwicklung des Tanzes, zu erwähnen oder ihre progressive Haltung, die sich nicht nur in ihrer Ablehnung einer Vernunftehe, sie hatte drei uneheliche Kinder von drei unterschiedlichen Vätern, manifestierte.
Das von Isadora Duncan selbst geschriebene Vorwort verrät eine nachdenkliche Frau, die sich um eine Rechtfertigung des für die damalige Zeit freizügigen Lebenswandels bemüht und ihre Zweifel an dem Unterfangen, Erinnerungen zu vermitteln, nicht unterschlägt. „Ein zerbrochener Krug, dem aller Wein entflossen ist“ sind für sie Memoiren.
Als „Tänzerin und Revolutionärin“ bezeichnet sich die Autorin, der Leser neigt eher zur Bezeichnung „Rebellin“, sei es gegenüber der Schule oder dem Weihnachtsmann, der Ehe oder den Spitzentanz, den sie als unnatürlich empfindet. Um zu frappieren, kann sie sich noch nach Jahrzehnten daran erinnern, wann man in der 3. Klasse reist und dass der Rotwein bei einem kargen Mahl 30 Centimes kostete. Klar wird dem Leser sehr schnell, wie, vielleicht damit kokettierend, leichtsinnig sie im Umgang mit Geld ist, das sie massenhaft verdient und ebenso schnell verliert. Sowohl was den Tanz als was die Liebe betrifft, ist sie eine Frühberufene, und so sehr der Leser dafür dankbar ist, dass es bei den Schilderungen der Liebesglut, die sie immer ganz plötzlich überfällt, schwülstig, aber allgemein bleibt, so sehr vermisst er genauere Schilderungen dessen, was das Revolutionäre an ihrem Tanz ausmacht. Zu allgemein bleibt sie, wenn sie ihn als die „Entfesselung innerer Regung“ bezeichnet. Irrwitzige Pläne wie die Errichtung eines Tempels in Griechenland und Nachvollziehbares wie die Gründung einer Tanzschule wechseln einander ab, wobei diejenigen, die für sie praktisch denken und handeln wie die ältere Schwester Elisabeth merkwürdig selten und dann nicht ihren Verdiensten entsprechend gewürdigt werden. Ob ihr Buch Der Tanz der Zukunft aufschlussreicher ist, müsste man überprüfen.
Eine Unzahl interessanter Menschen hat die Duncan im Verlauf ihres recht kurzen Lebens kennen gelernt. Angeblich plante Cosima Wagner eine Heirat der Tänzerin mit Sohn Siegfried, viele weitere intellektuelle und künstlerische Prominenz beteten sie mehr oder weniger erfolgreich an. Interessant ist, wie viele Skrupel bei vielen derselben herrschte, sie körperlich zu lieben oder gar zu entjungfern. Von letzterem Ereignis gibt es Detaillierteres, ebenso von der Geburt der drei Kinder, die sie allesamt auf schreckliche Weise verlor. Auch diese tragischen Ereignisse bieten eher Stoff für selbstbespiegelnde Betrachtungen oder für die Schilderungen allerlei mystischer Erlebnisse, von denen man nicht recht weiß, ob die Duncan sie tatsächlich hatte oder nur vortäuschte, um das Interesse an sich wach zu halten. Es dürfte durchaus eine Rolle gespielt haben, dass sie ihr Buch unbedingt gut verkaufen musste, um sich finanziell über Wasser zu halten.
Vielleicht den Unmut des türkischen Präsidenten erregen könnten die ausführlichen Schilderungen über das Elend, das die Türkei über Armenier und Griechen gebracht hatte und das Isadora Duncan zu lindern versuchte.
Eine Gesinnungsgenossin scheint die Tänzerin in der Schauspielerin Eleonora Duse gefunden zu haben, die „das Unheilsmal auf der Stirn“ der Freundin zu erblicken wähnte. Einen Tiefpunkt erreicht sie, als eine ihrer Schülerinnen ihr den Geliebten ausspannt und sie zwischen Mord- und Selbstmordgedanken schwankt. Ihr Plädoyer für das Recht auf Liebe auch jenseits der Vierzig ist wie so vieles andere zugleich ein berechtigtes Anliegen, das aber wie viele andere nicht einer altruistischen Gesamthaltung, sondern einem ganz aktuellen persönlichen Interesse entspringt.
Was natürlich nicht in dem Buch erwähnt werden kann ist das schauerliche Ende der Autorin, die durch ein anfahrendes Auto von ihrem eigenen Schal erwürgt wurde – zum Charakter des Buches hätte die dramatische Schilderung des Ereignisses nahtlos gepasst.
Als Zeitdokument ist das Buch jeden Interesses wert, als Portrait einer den Tanz auf neue Bahnen geführt habenden Künstlerin ebenso, und zum Schmunzeln über die Eskapaden und Vertuschungsversuche einer temperamentvollen Frau nicht minder. Eine Zeittafel und ein Personenregister machen das Buch vollständig (330 Seiten. Parthas Berlin. ISBN 978 3 86964 098 3). Ingrid Wanja