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Über 70 Jahre vor Glucks bekannter Oper Iphigénie en Tauride gab es bereits eine Vertonung des auf Euripides fußenden Stoffes, die ALPHA auf zwei CDs als Weltersteinspielung herausgebracht hat (1106). Sie stammt von Henry Desmarest, der von 1661 bis 1741 lebte. Neben Campra, Marais und Destouches zählte er zu den führenden Komponisten seiner Generation, hatte mit mehreren Tragödien, darunter Didon und Venus et Adonis, bereits beträchtliche Erfolge erzielt. Ab 1695 arbeitete er gemeinsam mit seinem Librettisten Joseph-Francois Duché de Vancy an dem neuen Werk, bis seine Heirat mit einem jungen Mädchen ohne Einwilligung dessen Vaters ihn ins Exil zwang. Die Partitur war unvollendet, gelangte über einen Freund des Komponisten in die Hände von André Campra, der den Librettisten Antoine Danchet zur Mitarbeit hinzuzog. Das finalisierte Werk erlebte 1704 in der Académie Royale de musique seine Uraufführung, zunächst mit nur mäßigem Erfolg. Erst als 1711 Françoise Journet die Titelrolle übernahm, fand es die verdient starke Resonanz.
Die musikalische Substanz der Oper ist vielfältig. Zu hören sind Ouvertüren, Arien, Duette und eine Vielzahl von Tänzen (Sarabande, Marche, Chaconne, Loure, Menuet).
Das auf den Barock spezialisierte Ensemble Le Concert Spirituel musiziert das reizvolle Werk unter Hervé Niquet mit lebhaftem Duktus, vermittelt einen nachhaltigen Hörgenuss. Véronique Gens, eine Tragödin von hohen Graden, füllt die Titelpartie mit Stilempfinden, Engagement und Emphase aus. Auch der Tenor/Haute-Contre Reinoud Van Mechelen ist ein Fels in der barocken Landschaft. Sein Pylade imponiert mit kultiviertem Gesang. Thomas Dolié als Oreste singt mit bassbaritonaler Resonanz. Vielbeschäftigt in den Aufnahmen des Labels (wie auch bei Château de Versailles) ist der französische Bariton David Witczak, dessen Thoas durch die energische Tongebung seiner klangvollen Stimme beeindruckt. Im Prologue wird auf der Insel Délos der Geburtstag der Göttin Diane gefeiert, die von der Mezzosopranistin Floriane Hasler solide gesungen wird. Pylades Schwester Électre ist die Sopranistin Olivia Doray mit warmer, angenehmer Stimme.
Die Einspielung, welche im Januar 2024 im französischen Puteaux entstand, ist eine interessante und willkommene Alternative zu Glucks bekanntem Werk (17. 10. 25). Bernd Hoppe
