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Was für eine großartige Entdeckung: Viele Jahre lang hatten einige Lieder-Manuskripte des Schweizer Komponisten Willy Heinz Müller in den Regalen der Urenkelin, der Sängerin Mélanie Adami, Staub angesetzt. Erst während der Corona-Pandemie fand sie endlich die Zeit, sich mit dieser Musik zu beschäftigen. Und siehe da: Die Manuskripte entpuppten sich als wahrer Schatz! Nun hat Adami die Werke ihres Urgroßvaters auf CD bei Propero) aufgenommen (dazu unsere Rezension). Ein Herzensprojekt – und die weltweit erste Aufnahme dieser Werke. Darüber sprach sie mit Ruth Wiedwald für operalounge.de
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Was waren die entscheidenden Momente in Ihrer Kindheit, die Sie dazu gebracht haben, Sängerin zu werden? Als Vierjährige bekam ich meinen ersten Violinunterricht bei meiner Großmutter. Ab sieben Jahren folgte der Klavierunterricht. Zuhause hatten wir nur drei Schellackplatten, und die konnte ich in- und auswendig. Eine davon war «Die Zauberflöte». Mit fünf sagte ich: «Wenn ich groß bin, werde ich die ‚Königin der Nacht‘ singen.» Nach meinem Stimmbruch – ja, Mädchen haben das auch – kam ich allerdings nicht mehr ganz so hoch hinauf, aber Sopranistin bin ich trotzdem geworden. Vor allem hat mir die Bühne gefallen. Ich hatte das Glück, in der Schule jedes Jahr ein Stück aufführen zu können, Texte auswendig zu lernen und auf der Bühne zu stehen. Mit 17 durfte ich dem Theaterchor in St. Gallen beitreten und in «Faust» von Gounod singen. Ich habe die Theaterluft förmlich aufgesogen, mir einen Klavierauszug zum Geburtstag gewünscht und die CD gekauft. Jeden Takt kannte ich in- und auswendig, und während der Aufführungen stand ich am Bühnenrand neben dem Inspizienten. Dort wurde ich von David Maze und Inva Mula gefördert, die mich ermutigten, Gesang zu studieren, und mir auch meinen ersten Gesangsunterricht gaben. Als ich bei einer Theaterführung die Gelegenheit hatte, auf einer großen Bühne zu stehen und in den leeren Saal zu schauen, habe ich in mich hineingefühlt: «Kann ich diesen Raum mit meiner Präsenz füllen, und will ich das?» Da habe ich die Entscheidung getroffen, Sängerin zu werden.
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Wann und wie haben Sie zum ersten Mal die Kompositionen Ihres Urgroßvaters Willy Heinz Müller entdeckt? Es war im Frühjahr 2020, als alles stillstand und meine Konzerte gerade abgesagt wurden. Ich saß auf dem Boden meines Musikzimmers, und mein Blick fiel auf eine Kiste mit einem Stapel Noten, den ich nie genauer angeschaut hatte. Diese Noten hatte ich schon einige Jahre, nachdem ich sie von meiner verstorbenen Großmutter bekommen hatte, aber sie hatte nie etwas darüber erwähnt. Der Stapel bestand aus Liedern und Duetten, von denen die meisten gar nicht mehr verlegt werden. Darunter befanden sich auch unvollendete und fertige Arrangements für Streichorchester, alle mit der Unterschrift meines Urgroßvaters. In einem Couvert stand in Omas Handschrift: «Lieder von Willy Müller».
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Wie sind Sie bei der Recherche und Sammlung der Werke von Willy Heinz Müller vorgegangen? Zuerst habe ich die Werke transkribieren lassen und ein Notenbuch erstellt, damit ich sie einem Pianisten vorlegen konnte, um sie richtig zu hören und zu lernen. Danach habe ich mit der Pianistin Judit Polgar die Lieder erarbeitet, und wir haben sie gemeinsam kennengelernt. Im Frühjahr 2023 konnte ich die Schweizer Musikhistorikerin Verena Naegele für das Projekt begeistern. Ihr verdanke ich die schönen Texte im Booklet und auf der Homepage. Vor allem hat sie Willys Leben und seine Liedkompositionen so sichtbar gemacht und in einen Kontext eingebettet. Die gemeinsame Recherche mit Verena in den Archiven war nicht nur spannend, sondern gibt auch ein interessantes Zeitbild ab.
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Was waren die schönsten Momente während der Arbeit an diesem Projekt? Eine Idee hörbar zu machen und zum Leben zu erwecken, war unglaublich. Am letzten Aufnahmetag, nach dem letzten Lied «Ich habe gegraben», sind die Emotionen über mich hereingebrochen. Es hat mich tief berührt, wie eine musikalische Idee auf Papier 100 Jahre lang warten konnte, bis sie wieder mit Leben gefüllt und hörbar wurde.
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Haben Sie eine persönliche Lieblingskomposition auf der CD, und wenn ja, warum? «Ich habe gegraben» hat eine besondere Melancholie und wunderschöne Gesangslinien, die mich sehr berühren. Auch «Erkenntnis» liegt mir sehr am Herzen, aber eigentlich sind mir alle Lieder ans Herz gewachsen, und ich freue mich schon darauf, sie bald wieder singen zu dürfen.
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Wie würden Sie den musikalischen Stil und die Kompositionen Ihres Urgroßvaters beschreiben? Die Kompositionen sind sehr textnah. Wenn die Sterne aufgehen, spiegelt sich das auch in der Musik wider. Der kleine Mensch, der beschrieben wird, wird sichtbar, und man erkennt, wie groß er sein möchte. Drei Takte später schwebt man schwerelos im All. Alles ist sehr einfühlsam und detailliert.
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Wie hat dieses Projekt Ihre Sichtweise auf Ihre eigene künstlerische Arbeit und Ihren musikalischen Weg beeinflusst? Meine Herangehensweise an ein neues Stück hat sich definitiv verändert. Ich verbringe viel mehr Zeit am Klavier, um die Harmonien und die gesamte Komposition zu erfassen, anstatt nur meine Gesangslinie zu lernen. Was meinen musikalischen Weg betrifft, so kann ich das nicht genau sagen, da sich in den vier Jahren seit dem Lockdown ohnehin ein großes „Crescendo“ entwickelt hat. Ich bin musikalisch erwachsen geworden und viel selbstsicherer. Dieses Projekt hat definitiv einen großen Einfluss darauf gehabt.
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Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, die Lieder Ihres Urgroßvaters zu interpretieren und aufzuführen? Ich wollte die Musik meines Urgroßvaters so authentisch wie möglich interpretieren, was natürlich auch einen gewissen Druck erzeugt hat. Aber mir war klar, dass ich sie in einem Jahr oder in fünf Jahren vielleicht anders singen und verstehen werde. Es ist ein dynamischer Prozess, und ich hoffe sehr, dass auch andere Musikerinnen und Musiker diese Lieder für sich entdecken und interpretieren werden. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie das geschieht.
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Warum sind Ihnen die Lieder Ihres Urgroßvaters so wichtig, und was möchten Sie mit deren Aufführung erreichen? Da bin ich sehr pragmatisch – ich denke, diese Lieder haben mich aus einem bestimmten Grund gefunden. Sie sind nicht dazu bestimmt, im Kantonsarchiv zu verstauben oder nur gesammelt zu werden. Sie wollen wiederentdeckt werden, und ich habe diese Aufgabe angenommen. Wer weiß, vielleicht berühren sie jemanden. Vielleicht berührt die Geschichte jemanden und vielleicht bewegt es auch jemanden dazu, seinen eigenen Wurzeln nachzugehen oder noch schöner: Zeit mit den Großeltern und Eltern zu verbringen, ihnen Zeit schenken und sie einfach erzählen zu lassen.
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Hat die Entdeckung der Lieder Ihres Urgroßvaters Ihre Verbindung zu Ihrer Familiengeschichte verändert oder vertieft? Ja, auf jeden Fall. Wir wussten nur sehr wenig über Willy, aber jetzt hat er eine Geschichte bekommen, Gefühle, und Gründe, warum er zum Beispiel nach St. Gallen kam und dort lebte. Ohne ihn gäbe es mich gar nicht. Danke, Willy!
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Sehen Sie musikalische oder thematische Einflüsse Ihres Urgroßvaters in Ihrer eigenen Arbeit? Ja, ich glaube schon. Das Wienerische und Ungarische spüre ich in mir, genauso wie die Liebe zur Operette – ich darf bald die «Gräfin Mariza» singen – aber auch zur ernsten Musik. Vielleicht auch die philosophische oder spirituelle Denkweise. Es wäre fantastisch gewesen, mit ihm gemeinsam Musik zu machen.
Inwiefern fühlen Sie sich mit den melancholischen Themen und der spätromantischen Musiksprache Ihres Urgroßvaters verbunden? Planen Sie, die Lieder Ihres Urgroßvaters regelmäßig in Ihr Repertoire aufzunehmen? Damit fühle ich mich sehr verbunden. Und ja, ich werde einige davon bestimmt in mein regelmäßiges Repertoire aufnehmen. Aber nicht alle Lieder passen in jeden Liederabend. Mit Judit Polgar und Verena Naegele haben wir ein Liederprogramm zusammengestellt, das die Lieder meines Urgroßvaters in die Musikgeschichte einbettet. Es ist ergänzt durch Werke von Mahler, Lehár, Ries und Tischhauser.
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Wie haben Sie die Werke der Zeitgenossen ausgewählt, die auf der CD zu hören sind? Die CD erzählt auch eine Geschichte. Die Lieder von Franz Ries, die schon meine Ur-Ur-Großmutter gesungen hatte, führen uns zurück in die Zeit. Der wunderbare Bariton Äneas Humm und ich singen auch Lieder von Dohnányi, unter dem Willy Violine im Orchester spielte. Die drei Duette sind Funde aus Willys Notenarchiv – übrigens, mit Ausnahme der Lieder von Dohnányi, sind es alles Weltersteinspielungen. Es sollte eine Verbindung geben und eine Geschichte erzählen, die Willy in der Musikgeschichte verankert.
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Wie hat Ihr Publikum auf die Lieder Ihres Urgroßvaters reagiert? Die Reaktionen waren natürlich sehr schön, aber das hat auch viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, die ebenfalls mitschwingt. Jetzt bin ich gespannt, wie das Publikum und die Hörer auf die Lieder reagieren. Das Echo in den Medien war jedenfalls sehr interessiert und positiv, was mich – und hoffentlich auch Willy – freut. Ruth Wiedwald./ Fotos Peggy Meese