.
Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass Hans Zender (1936-2019) „Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ von Schuberts Winterreise vorlegte. Sie sorgte international für Furore, einige Kritiker und Stimmen aus dem Publikum warfen aber auch die Frage auf, ob man sich denn am berühmtesten Liederzyklus nachschöpferisch vergreifen dürfe. Die Zeit gab Zender Recht. Man darf. Seither ist seine Version oft aufgeführt und mehrfach eingespielt worden. Es blieb nicht dabei. Bearbeitungen mehren sich. Nicht nur zu ihrem Vorteil dieses Werkes. Von der Schöner Müllerin gibt „keine Bearbeitungen im Sinne einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem gesamten Liederzyklus, so wie es mit der Winterreise seit Zenders Fassung in unterschiedlichster Art und Weise passiert ist“, lässt der Komponist und Arrangeur Andreas N. Tarkmann im Booklet einer Aufnahme seiner Bearbeitung mit Klaus Florin Vogt wissen. Sie ist bei cpo erschienen (555 549-2).
Vogt hatte den Auftrag dazu selbst gegeben und das Ergebnis 2019 in Hamburg uraufgeführt. Begleitet wird er vom Ensemble Acht, das sich – seinem Namen folgend – aus acht Musikern mit ebenso vielen Instrumenten zusammensetzt: Klarinette, Fagott, Horn, 1. Violine, 2. Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Diese Besetzung geht nach den Worten von Tarkmann auf Schuberts großes Oktett F-Dur D 803 aus dem Jahre 1824 zurück. Sie sei ihm für seine Bearbeitung, die den Klavierpart instrumentier, die Gesangsstimme aber unangetastet lasse, besonders geeignet erschienen. Für Tarkmann ist sie zum einen durch die Instrumentenauswahl „die romantische Besetzung, die am besten Atmosphäre und Geist Schubertscher Musik auch noch in einer Bearbeitung zu transportieren vermag“, zum anderen behalte sie „trotz klanglicher Opulenz einen kammermusikalischen Charakter“. Er habe den ursprünglichen Klavierpart „erheblich aufgewertet und als Instrumentalensemble zu einem nahezu gleichberechtigten Partner der Singstimme werden lassen“. Und weiter: „Die große Entwicklung innerhalb der Dichtung, ihre enorme Fallhöhe, öffnet einen Raum, den ich in der Bearbeitung nutzen konnte: die verschiedenen Instrumente gaben mir beispielweise die Möglichkeit, frühzeitig anzudeuten, welches Unheil kommen mag, und ich fand es durchaus reizvoll, durch die Bearbeitung an der ein oder anderen Stelle mehr zu erzählen als der Handelnde selbst weiß.“ Tarkmann zufolge stellen die häufigen Strophenlieder mit ihren Wiederholungen eine besondere Herausforderung dar. „Zwar sind sie inhaltlich sehr wichtig, doch bergen sie die Gefahr einer musikalischen Redundanz. Durch eine Oktettbesetzung war es mir nun möglich, jede Strophe unterschiedlich zu instrumentieren, um dadurch immer neue Farben ins Spiel zu bringen.“ Gelegentlich habe er sich die formale Freiheit erlaubt, bei manchen Liedern Vor- und Nachspiele hinzuzufügen. Gleich das erste Lied – Das Wandern – beginne mit einem Instrumentalvorspiel, das es in der Klavierfassung so nicht gebe, dem neu dimensionierten Liederzyklus aber „einen angemesseneren Anfang verleiht“.
Vogt, der – der seine künstlerische Laufbahn als Hornist in Hamburg begann – trägt den Zyklus mit instrumental geführter Stimme vor. Die deutlich erweiterte Begleitung kommt ihm entgegen. Sie gibt ihm Halt und lässt Defizite an stimmlicher Farbe weniger hervortreten. Vogt singt vollkommen wortverständlich und erfüllt damit eine entscheidende Voraussetzung für den Liedgesang. Dadurch fällt aber umso mehr auf, wie wenig er letztlich aus den Text von Wilhelm Müller herauszuholen vermag. Da klingt vieles gleich. Ich vermisse echte dramatische Steigerungen, dunkle Ahnungen, jähe Wendungen und falsche Hoffnungen, von denen es in diesem romantischen Liederwerk nur so wimmelt. Erst zum Schluss hin, wohl auch, weil man sich an die ungewohnte Bearbeitung gewöhnt hat, stellt sich auch mehr Wirkung ein. Man darf gespannt sein, ob sich auch andere Sänger an dieser Version, die Vogt auf den Leib geschrieben ist, versuchen.#
.
.
War zu Begann dieses Texten noch ein Mangel an Bearbeitungen der Schönen Müllerin festgestellt worden, findet sich inzwischen der nächste einschlägige Versuch auf einer CD, die bei Rubicon erschienen ist (RCD1086). Der umtriebige britische Regisseur und Musiker Thomas Guthrie hat sich eine eigene Version geschaffen, in der er auch als Sänger in Erscheinung tritt. Begleitet wird er von der Barokksolistene-Band, die der Geiger Bjarte Eike leitet, der dafür bekannt ist, musikalische Grenzen mit dem Ziel zu verschieben, neue Ausdrucksformen zu finden. Der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet, verbindet er sein künstlerisches Wirken mit Elementen der bildenden Kunst sowie des Sprech- und Tanztheaters. Gemeinsam mit Guthrie bleibt er mit der Müllerin aber ganz bei Franz Schubert, verlässt sich auf dessen Meisterschaft und verzichtet auf außermusikalische Beigaben. Zustande gekommen ist eine packende Performance, die die Chiffren der Romantik mit den Erfahrungen der Gegenwart zu entschlüsseln versucht. Dabei spielt die Gitarre eine wichtige Rolle. Jenes Instrument, das wie kaum ein anderes durch die Jahrhunderte tönt. Und das auch Schubert liebte. In der Band kommen gleich zwei Gitarren aus dem neunzehnten Jahrhundert zum Einsatz. Ist die musikalische Ausstattung zu Beginn auch im Rhythmus noch vergleichsweise üppig, wird es von Lied zu Lied schlichter und stiller. Auch das Tempo ebbt ab. Guthrie lässt sich nicht auf den Versuch ein, mit einem klassischen Liedersänger in Konkurrenz treten zu wollen, obwohl er stimmliche durchaus das Zeug dazu hätte. Er nimmt sich seine Freiheiten heraus und hält sich nicht lange bei Schwierigkeiten mit sprachlichen Details auf. Das macht die Einspielung interessant und hörenswert.
.
Das Cover gibt nichts preis von dem, was eine weitere Aufnahme aus jüngster Zeit von anderen erheblich unterscheidet: Konstatin Krimmel singt Die schöne Müllerin von Franz Schubert, erschienen bei Alpha-Classics. Begleitet wird er von Daniel Heide (Alpha 929). Der schlägt ein rasantes Tempo an. Es lässt keinen Zweifel aufkommen, dass gewandert wird. Krimmel muss sich nicht dreinfinden. Er marschiert sofort los. Es wird kein fröhlicher Ausflug. Das ist mit dem ersten Ton klar. Dieser Müllerbursche befindet auf dem Weg in den Tod. Der sichere Umgang mit dem Text, der schon immer eine seiner Stärken war, macht den Liedsänger Krimmel aus. Die ruhig geführte Stimme sitzt fest im Körper. Er kommt nie an Grenzen seines Baritons. Mir scheint, er ist im Vergleich mit früheren Einspielungen noch reifer geworden. So kann er alle Ressourcen auf die Gestaltung verwenden. Es dauert nicht lange, bis es anders klingt als man es gewohnt ist und verinnerlicht hat. Darauf soll es wohl auch hinaus.
Zunächst unmerklich, dann immer stärker und auffälliger werden einzelne Wörter mit Koloraturen verziert und fast schon in die Nähe der Oper gerückt. Gleich im ersten Lied gibt es zum Schluss hin auch noch ein zusätzliches „Ja“, das da nicht hingehört und auch dem Text, der im Booklet mitzulesen ist, nicht zugeteilt wurde. Der Sänger experimentiert auf subtile Weise mit dem Tempo und dehnt Figuren wie im Lied Am Feierabend bis zum Gehtnichtmehr, um gleichzeitig vorzuführen, wie man noch deutlicher singen kann als er es ohnehin die ganze Zeit über tut. In der Regel bleiben die Lieder im Einstieg unangetastet. Erst im Verlauf bauen sich die teils überraschenden Zutaten auf. Sie wirken nicht spontan sondern sehr ausgeklügelt. Auch wenn nicht alles Sinn macht, so ist die Absicht meist klar. Einen deutlichen Mehrwert in Inhalt und Aussage kann ich aber nicht erkennen, auch wenn der Sänger in einem sehr persönlichen Text im Booklet in düsteres Nachdenken gerät. Er verweist darauf, dass sich in Deutschland nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Jahre 2021 über 9000 Menschen das Leben nahmen. Dreiviertel davon seien Männer gewesen. Fiele diese Zahl geringer aus, wenn das stereotypische „Rollenbild nicht darauf bestehen würde, dass der Mann Stärke zeigen müsse“, fragt er. Es sei leichter gesagt als getan, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Müllerbursche hat sie nicht gesucht, „sondern macht die Last der Emotionen mit sich selbst aus und teilt sie letztlich mit dem Bach, der ihm seinen Todeswunsch erfüllt“. Es sei eine „Achterbahn der Gefühle, eine Berg- und Talfahrt durch die Leidenschaft“. Krimmel schließt mit einem Hinweis auf das Fünf-Phasen-Modell der schweizerisch-amerikanischen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Danach wäre der Müllerbursche am Ende seines Wegs bei der 5. Phase angelegt, in der Sterbende den Tod akzeptieren.
Wenn sich also ein Dreißigjähriger bei seiner Sicht auf den Liederzyklus an knallharte Fakten der Gegenwart hält und die Romantik Romantik sein lässt, ist das nur verständlich. Sein Vortrag aber ist durch und durch rückwärtsgewandt und nur aus der Zeit Schuberts heraus zu verstehen. Damals war es übliche Praxis, Lieder verziert darzubieten. Nach Schuberts Tod hatte sich der Komponist, Pianist und Verleger Anton Diabelli die Rechte an der Schönen Müllerin gesichert und bereitete einen repräsentativen Druck vor. Er bat den „berühmten, mit Schubert befreundeten Sänger Johann Michael Vogl, die Singstimme so einzurichten, dass sie möglichst großes Echo beim Publikum finde. Das tat dieser denn auch. Er fügte – sparsam – einige Verzierungen hinzu, … die er selbst gesungen hatte, wenn Schubert ihn begleitete“. Nachzulesen beim Musikwissenschaftler Walther Dürr in einem Beitrag für die Einspielung von Christoph Prégardien und seines Begleiters Michael Gees 2008 bei Challenge Classics. Die Ornamente, die Prégardien singt, „orientierten sich zwar vom Typus her an den in Diabellis Druck (und einigen Handschriften) überlieferten Verzierungen – wo der Sänger sie aber einsetzt und wie er sie im Einzelfall gestaltet, ist ganz seine eigene Erfindung“, so Dürr. Was Krimmel und Heide versuchen, ist also nicht neu. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich im Detail deutlich von der des Tenor-Kollegen Prégardien. Woran orientieren sie sich? Es gibt im Booklet nicht einen Hinweis darauf. Vielmehr wird der Eindruck vermittelt, als würde eine „ganz normale“ Müllerin dargeboten. Streng genommen handelt es sich auch hier um eine Bearbeitung (Foto Pixabay). Rüdiger Winter