Glyndebourne Klassiker

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Sperrmüll oder Flohmarkt. Als Vintage deklariert bekommt das alte Zeugs einen eindeutig feineren Anstrich. So ist die Begeisterung zu verstehen, die der annähernd 40 Jahre alten, gefühlt aber noch viel älteren, mehrfach auf Video und DVD erschienen Aufführung von Albert Herring in der Inszenierung von Peter Hall Inszenierung entgegenschlägt. It’s „British opera at it’s best“, so der Daily Express oder wie die auf der Vorderseite der Opus Arte DVD zitierte Sunday Times schwärmte „a vintage production with a vintage cast“ (OA 1375D). Die Aufführung versammelt alles, was das zum exklusiven Festspielort avancierte Landhaus in Sussex in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bieten hatte, als Bernard Haitink von 1978-88 die musikalische Leitung innehatte. Herrlich altmodisch. Absolut passend für ein Stück, das hier 1947 zum naserümpfenden Missfallen des Festspielgründers uraufgeführt und knapp 40 Jahre später, genau im Juli 1985, zu einem der größten Erfolge der Festspiele wurde und provinzielle Engstirnigkeit und moralischen Dünkel anprangert. Peter Hall und sein nicht minder berühmter Ausstatter John Gunter haben den englischen Kleinstadtmief um 1900 samt den schweren Renaissancestühlen, Decken, Vorhängen und dem finsteren Mobiliar in Lady Billows dunklen Salon gerettet, wo die Honoratioren des Ortes mit finsteren Äußerungen und dunkler Gesinnung die jungen Damen des Ortes behängen und deshalb bei der Wahl der Maienkönigin auf den tugendhaft einfältigen Albert Herring ausweichen müssen. Die Satire auf die Doppelmoral verlogener Kleinbürger wird bei Hall zu einer Komödie über die Unzulänglichkeiten der kleinstädtisch viktorianischen Gesellschaft, die er in einer Ansammlung skurriler Charakterköpfe präzise entwirft:

Eine Garde verdienter britischer Sänger halten die Glyndebourne-Ensemblekultur hoch. Sie sind, angeführt von der herrlich aufgeplusterten und matronenhaft vibratostarken Patricia Johnson als Lady Billows, durchweg überzeugend, exzentrisch, skurril, knapp vorbei an einer Karikatur, lächerlich und ernst zugleich. Auf der DVD sowie im Beiheft lassen sich die gestochen weiß gesetzten Namen gut lesen, kaum jedoch die matt rot auf braun schwarz gesetzten Rollen dazu. Eine Unart.  Mehr erahnen als tatsächlich lesen kann man, dass Felicity Palmer als Florence Pike eines ihrer frühen eigenwilligen Porträts liefert, Alexander Oliver den Bürgermeister gibt, Derek Hammond-Stroud den Vikar und Richard Van Allan den Superintendenten. Großartig, wie sie unter Führung der Lady im Laden der Mrs. Herring (mit deftigen Akzenten: Patricia Kern) einziehen, um ihre Wahl des Maikönigs zu verkünden. Der passend farblose John Graham-Hall war, grell und greinend singend, etwas glubschäugig und linkisch, der Albert einer Generation, dem man damals noch nicht seine lange Karriere in zahlreichen zeitgenössischen Stücken und Werken der klassischen Moderne vorhergesagt hätte. Ähnliches gilt für den Bariton Alan Opie als Sid, der eine feste Größe in Glyndebourne wurde und 2008 als Vikar zurückkehrte, und Jean Rigby als frühreife Nancy. Unaufdringlich und in mit vielen liebevollen Details – man schaue sich nur die köstlichen Exzesse bei der Kuchentafel am Ende des zweiten Aktes an – führt Peter Hall vom Salon der Lady Billows durch den Gemüseladen auf die Festwiese, ebenso feinsinnig, elegant und selbstverständlich steuert Haitink durch die Partitur, deren steifleinener Humor sich im Retro-Chic bestens ertragen lässt.     Rolf Fath