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Hätte Richard Jones Mussorgskys Oper Boris Godunov an Londons Opernhaus Covent Garden anders inszeniert, wenn es nicht bereits 2016, sondern erst 2022 geschehen wäre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine? Vielleicht hätte er nicht auf die Urfassung von1869 ohne Polenakt und ohne die Szene mit der Klage des Gottesnarren um das Schicksal Russlands zurückgegriffen, die dem abschließenden Tod des Boris vorausgeht und so aktuell erscheint, dass es einen fast gruselt. Auch dem Berliner Publikum ist die Inszenierung aus London bekannt, denn es handelt sich um eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin, die hier 2019 gezeigt wurde, nicht mit Bryn Terfel wie in London in der Titelpartie, sondern mit Ain Anger, der wiederum in London der Pimen war, während Terfel nur zu einem Gastspiel in Berlin erschien.
Die Bühne von Miriam Buethe ist in ein Oben und ein Unten unterteilt, der Hintergrund des oberen Teil gülden wie der russischer Ikonen, und in ihm spielt sich immer wieder und fast zum Überdruss oft die Ermordung des mit einer bunten Kugel spielenden Zarewitsch ab, das letzte Mal als die des jungen Fjodor, Boris‘ Sohn. Die Kostüme von Nicky Gillibrand sind für die Oberen bunt wie russischer Lackmalerei abgeschaut, für die Unteren von hässlicher Eintönigkeit, Folkloristisches wird nicht verschmäht, aber nicht überbetont, wie die Gewandung der Wirtin beweist. Eindrucksvoll mit Zarenporträts ausgestattet ist die Zelle von Pimen, nur das letzte davon blieb unvollendet. Zeit und Ort des Geschehens, Russland um 1600, bleiben erhalten, ohne in Opernkitsch abzugleiten.
Obwohl mit keinem einzigen muttersprachlichen oder auch nur slawischen Sänger besetzt, wirkt die Aufführung äußerst authentisch, und obwohl nicht mit einem Bass des Kalibers Boris Christoff oder Nikolai Ghiaurov besetzt, wird die Titelpartie vom Bassbarion Bryn Terfel fesselnd und ergreifend gestaltet, nicht mit einer Überwältigungsstimme, aber mit warmen, auch oft weichen Tönen die Stimmungsschwankungen, denen die Figur unterworfen ist, eindrucksvoll vermittelnd. Viel Bassautorität, Sanftheit und Fülle strahlt die Stimme von Ain Anger als Pimen aus. Ein Kabinettstück, eine perfekte Mischung von Würde und Komik, bietet John Tomlinson als Varlaam mit immer noch hochpräsenter Stimme. Kostas Smoriginas hat einen ebenmäßig gefärbten, autoritätvermittelnden Bariton für den Anführer der Bojaren. David Butt Philip stattet den falschen Dmitri mit feiner Schauspielkunst und einem angemessenen Charaktertenor aus. Als blasser, lauernder Bürokrat ist John Graham-Hall als Shuisky eher optisch als akustisch eindrucksvoll. Eine ausgesprochen farbig und geschmeidig klingende Stimme setzt Jeremy White für den Polizeioffizier ein. Die klare Diktion und eine angemessene plärrende Stimme beweisen die Eignung Andrew Tortises für den Gottesnarren. Zarewitsch Fjodor findet in dem Jungen Ben Knight einen auch akustisch erstaunlich präsenten Vertreter.
Ohne die Polin Marina haben die Frauen in dieser Fassung nicht viel zu sagen bzw. zu singen. Aber Rebecca De Pont Davies macht optisch wie akustisch sehr viel aus der deftigen Wirtin, Vlada Borovno ist eine anrührende Xenia und Sarah Pring eine mit weichem Alt tröstende Amme.
Der Chor von Covent Garden, einstudiert von Renato Balsadonna, singt höchst kultiviert, aber auch, wenn angebracht, mit dem notwendigen Aplomb, das Orchester unter Antonio Pappano sorgt für eine schöne Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben, ist eher in begleitender denn dominierender Funktion zu vernehmen. Das Booklet ist so dürftig, dass es nicht einmal eine Trackliste besitzt (Opus Arte BD7314D). Ingrid Wanja