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Vor dem Tangermünder Rathaus steht seit den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts eine Statue: eine junge Frau in Fesseln, die mit gebeugtem Haupt ihrem Ende auf dem Scheiterhaufen entgegen schreitet. Es ist eine Art Wiedergutmachung an Grete Minde, die zu Unrecht der Brandstiftung beschuldigt, schrecklich gefoltert und hingerichtet wurde. Das geschah im Jahre 1617, also ein Jahr vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, der ganz Deutschland in Schutt und Asche legen und seine Bevölkerung dezimieren sollte. In dieser Zeit lag die der Blüte der Stadt bereits zweieinhalb Jahrhunderte zurück, denn im 14. Jahrhundert hatte Kaiser Karl IV. erwogen, sie zu seiner Hauptresidenz zu erheben, entschied sich dann aber doch für Prag. Immerhin spielte Tangermünde innerhalb des Kurfürstentums Brandenburg noch eine bedeutende Rolle, wovon der Besuch des Fürsten in Theodor Fontanes Novelle Grete Minde Zeugnis ablegt. Der Schriftsteller musste davon ausgehen, dass Grete Minde schuldig war, erst spätere Untersuchungen brachten die Wahrheit ans Licht, aber trotzdem ist sie eine Romanheldin, denn ihr Handeln wird als nachvollziehbar dargestellt, so wie auch Kleist seinen Michael Kohlhaas als zunächst Unschuldigen schuldig werden lässt.
Als Tochter des Kaufmanns Minde und seiner zweiten, aus Spanien stammenden und damit katholischen Frau wird Grete nach dem Tod ihres Vaters vom Stiefbruder und dessen Frau so lange schikaniert, bis sie mit dem ihr ergebenen Vantin flieht, sich mit ihm einer Schauspielertruppe anschließt, nach wenigen Jahren ihren nun Ehemann durch eine Krankheit verliert und nach Tangermünde zurückkehrt, um zunächst für sich und ihr Kind um Aufnahme im Elternhaus zu bitten. Als ihr diese verweigert wird, verlangt sie ihr Erbe, das ihr verwehrt wird, da ihr Stiefbruder vor der Ratsversammlung einen Meineid schwört. Danach setzt Grete die Tangermünder Stephanskirche in Brand, in dem sie selbst mit ihrem Kind und dem ihres Stiefbruders umkommt.
Dieser Stoff interessierte den Berliner Kaufmann Eugen Engel, der neben seinem Beruf komponierte und den die Arbeit zu dieser seiner einzigen Oper über Jahrzehnte hinweg beschäftigte. Der Librettist ist Hans Bodenstedt, der auch das Buch für Franz von Suppés Leichte Kavallerie schrieb, eine Übersetzung von Offenbachs Orpheus in der Unterwelt und der den zu seiner Zeit höchst populären Funkheinzelmann zu verantworten hat. Schlimmer ist, dass er auch Herausgeber mehrerer streng nationalsozialistischer Printerzeugnisse war, aber da hatte Hitler längst die Macht ergriffen und der Jude Eugen Engel hatte jede Hoffnung verloren, sein Werk in Deutschland aufgeführt zu sehen. Auch Bittschreiben an mehrere Dirigenten, darunter an Bruno Walter, führten zu keinem Erfolg, Engel emigrierte im Januar 1939 zu seiner Tochter Eva in die Niederlande, bemühte sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen um eine Einreise in die USA oder nach Kuba, wurde jedoch verhaftet und starb im März 1943 im Gas. Seine Tochter hatte in ihrem Gepäck einen Koffer ihres Vaters, den jedoch erst die Enkel öffneten und darin unter anderem die Partitur und einen Klavierauszug von Grete Minde fanden. Als in der Berliner Charlottenstraße, dem letzten Wohnsitz des Komponisten vor seiner Ausreise, Stolpersteine im Andenken an die Familie Engel verlegt wurden, kam die Partitur nach Deutschland zurück, und die Oper wurde endlich im Jahre 2022, fast 90 Jahre nach ihrer Vollendung und 80 Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers, in Magdeburg uraufgeführt. Sie wurde vom Deutschlandfunk Kultur übertragen, und es gibt nun eine Doppel-CD vom Label Orfeo (dazu auch Die vergessene Oper 172 hier bei oprralounge.de)
Eigentlich ist Theodor Fontane in seiner gallisch-preußischen, eher unter- als übertreibenden Nüchternheit kein Opernstofflieferant. Daran ändert auch nichts, dass es zum Fontanejahr mit Effi Briest und Oceane zwei Vertonungen gab. Der eher holzschnittartige Chronikstil der Grete Minde scheint sich eher einer Vertonung, gar zu einer Oper, zu widersetzen, als diese zu befördern.
Vergleicht man Novelle und Libretto miteinander, so fällt auf, dass die Szenen zwischen Grete und Vantin in der Oper sehr knapp gehalten sind, dass vieles wegfällt zugunsten von Volksszenen und solchen der Schauspielertruppe für den Chor . Glaubt man der Oper, dann verlassen Grete und Vantin als 13- bzw. 14jährige nach dem ersten Streit mit Trud, der Schwägerin Gretes, die Stadt, während bei Fontane Jahre vergehen, ehe dies geschieht. Die aufschlussreichen Szenen im Forst, in dem sich die Beiden verlaufen, die Floßfahrt, die die erste Etappe der Flucht bildet, kommen nicht mehr vor, der Besuch Gretes im Nonnenkloster in Arendsee entfällt ebenso wie ihr Auftreten vor der Bürgerschaft. Die feinsinnigen Schilderungen der Vertreter der einzelnen Religionsgruppen sind so gut wie vollständig unterschlagen worden, dafür gibt es eine durchaus verzichtbare Auseinandersetzung zwischen der Trud und ihrem Ehemann. Manches ist ohne ersichtlichen Grund verändert, so wenn Grete nun nicht mehr ihren Neffen mit auf den Kirchturm nimmt, sondern das Haus seiner Eltern in Brand setzt und ihn darin umkommen lässt. Die meisten Änderungen sind nicht den besonderen Bedürfnissen eines Musikdramas geschuldet, sondern scheinen reine Willkür zu sein. Im Vergleich der zum Glück zahlreichen wörtlichen Zitate aus Fontane mit dem von Bodenstedt stammenden Text stellt man fest, dass es eine starke Diskrepanz des Fontane-Textes zur streckenweise auftretenden Schwülstigkeit des Librettisten gibt. Ebenfalls, aber hier gerechtfertigt, stehen einander liedhafte Schlichtheit und spätromantischer Klangrausch in der Partitur gegenüber. Am Schluss wird man mit der Wendung von der klanggewaltigen Untergangsmusik zur Verklärung in lichtem Dur an die Götterdämmerung erinnert.
Dirigentin Anna Skryleva leistet mit der Magdeburgischen Philharmonie Erstaunliches und wird volksliedhafter Schlichtheit wie überbordendem Klangrausch gleichermaßen gerecht. Der Opernchor des Theaters Magdeburg überzeugt im derben Trinklied ebenso wie im Schreckensszenario des Brandes oder in der turbulenten Vorfreude auf die Puppenspieler.
Ein Glücksfall, auch optisch, wie die Fotos beweisen, ist die Besetzung der Titelpartie mit Raffaella Linti, mit frischem, mädchenhaftem Sopran, der auch dem dramatischen „in Ekstase“ standhält, schön aufblüht in „frei“ und der den innig schlichten Volksliedton einschließlich den des Wiegenlieds genau trifft und auch in der „Schlussansprache“ nie schrill wird. In ihrer Rolle als Engel bei den Komödianten klingt die Stimme wie ein filigranes Gespinst. Angemessen schärfer ist er Ton der Trud von Kristi Anna Isene, weicher und wärmer klingt die Emrentz von Jadwiga Postrozna, zart bis schrill die Zenobia von Na’ama Shutman, keine 95 Jahre in der Stimme lässt Karina Repova als Domina vernehmen.
Mit textverständlicher Emphase geht Zoltan Nyani den Valtin an, dessen Tenor recht eng und scharf klingt. Gut tragend und durchdringend ist der Tenor von Benjamin Lee, der als Hanswurst viel zu singen hat und dessen Parlando fein akzentuiert ist. Markant klingt der Puppenspieler von Johannes Wollrab, ebenso und dazu noch warmherzig der Gigas von Paul Skeltris, dessen Begegnung mit Grete und Trud in der Oper viel zu kurz kommt. So ergeht es auch dem Bürgermeister Guntz von Johannes Stermann, dessen Bass man nur in einem kurzen Auftritt hören kann. Abgründig tief ist die Stimme von Frank Heinrich, der den Wirt singt.
Die Oper Grete Minde von Eugen Engel hört man sich mit Interesse und Sympathie an, die Novelle von Theodor Fontane muss man einfach lieben (Orfeo 2 CD 260352). Ingrid Wanja