Ein ténor de grace à la française

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So romantique! heißt das neue Recital des Tenors Cyrille Dubois bei ALPHA-CLASSICS (924). Aufgenommen in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane im Juli 2021 in Lille, enthält es französische Opernarien, die zwischen 1820 und 1900 entstanden und für einen ganz bestimmten Stimmtyp geschrieben wurden. Es ist der ténor de grace, die französische Variante des italienischen tenore di grazia.  Sänger dieser Gattung bedienten vor allem das Repertoire der Opéra comique. Ihre Stimmen zeichnen sich durch ein helles, geschmeidiges Timbre und eine leichte, strahlende Höhe aus. Diese Merkmale charakterisieren auch den Solisten des Recitals. Er singt Händel, Mozart und Belcanto-Partien, spezialisiert sich aber vor allem auf das französische Fach. Einfühlsam begleitet wird er vom Orchestre National de Lille unter Leitung von Pierre Dumoussaud.

Älteste Komposition der Anthologie ist die Cavatine des Georges, „Viens, gentille dame“, aus François-Adrien Boieldieus La Dame blanche (1825). Der Tenor beginnt sie verträumt, um sie dann überschwänglich zu steigern und ganz entrückt enden zu lassen. Boieldieus Modell führte Daniel-François-Esprit Auber weiter. Das Air des Fabio „Asile où règne le silence“ aus dessen La Barcarolle (1845) eröffnet das Programm. Mit Rezitativ, Cantabile und schnellem, rhythmischem Schluss, der italienischen stretta vergleichbar, ist diese Nummer typisch für ein romantisches grand air. Die Stimme des Tenors klingt hier besonders weich und schmeichelnd, trumpft am Ende bei den Spitzennoten gehörig auf.

Verdienstvoll ist die Zusammenstellung der CD, welche viele Raritäten enthält, so die Romance des Alvar, „Combien de fois j’ai revé d’elle“ aus Benjamin Godars Pedro de Zalamea (1884), die Romance du sommeil, „Revons qu’un plus beau jour“, des Titelhelden aus Louis Clapissons Gibby la cornemuse (1846) oder das Air des Haydn, „Viens, o mélodie“, aus Charles Luce-Varlets L’élève de Presbourg (1840). Da hört man schwärmerische, elegische, melancholische, zärtliche, sehnsuchtsvolle Klänge und feine Kopftöne.

Natürlich finden sich auch bekannte Namen auf der Liste der Komponisten, nicht immer aber Ausschnitte aus dessen populären Werken. So ist von Ambroise Thomas nicht nur die bekannte Mélodie des Wilhelm, „Adieu, Mignon“, aus der nach Goethe entstandenen Mignon (1866) in einer sanften, traumversunkenen Wiedergabe zu hören, sondern es ergibt sich auch die Bekanntschaft mit seiner Komposition Le roman d’Elvire (1860), aus der das emphatische und exponiert notierte Air des Gennaro, „Supreme puissance“, erklingt, und mit seinem Raymond von 1851, aus dem die Cavatine des verzweifelten Titelhelden, „Point de pitié“, zu hören ist. Auch bei Charles Gounod wählte der Sänger nicht dessen Faust, sondern Le médecin malgré lui (1858) und daraus das narrative  Fabliau des Léandre „Je portais dans une cage“. Da die dramatischen Tenorpartien des Eléazar in Fromental Halévys La Juive und die des männlichen Titelhelden in Camille Saint-Saëns’ Samson et Dalila einen ganz anderen Tenortyp verlangen würden, wählte Dubois von Halévy Les mousquetaires de la reine (1846) mit dem inbrünstigen  Couplet des Olivier, „Enfin un jour plus doux se lève“, und von Saint-Saëns Le timbre d’argent (1864) mit der Mélodie des Bénédict, „Demande à l’oiseau“.

Von Georges Bizet findet sich die nicht ganz unbekannte Oper La jolie fille de Perth (1867) mit dem erregten Air des Smith „O cruelle!“, von Léo Delibes seine populäre Lakmé (1883) mit dem  ekstatischen Air des Gérald „Fantaisie aux divins mensonges“. Ein wirklicher Hit ist dagegen die Cavatine des Tonio, „Ah! mes amis“, aus Gaetano Donizettis La fille du régiment (1840) mit ihrer Serie von hohen C’s. Hier muss sich der Interpret großer Konkurrenz stellen, macht aber gute Figur mit einem leidenschaftlichen Entrée, dem schwelgerischen „Pour mon ame“ und sicheren Topnoten. Zum Schluss nochmals eine Rarität mit der Romance  des Donatien, „Adieu, toi ma pauvre mère!“ aus Louis Clapissons Le code noir (1842), mit der dieses bemerkenswerte Recital noch einmal die Vorzüge der Stimme herausstellt und wirkungsvoll endet (10. 02. 23). Bernd Hoppe