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Kurz vor seinem frühen Krebstod vor 55 Jahren soll Ettore Bastianini den Wunsch geäußert haben, nicht in Vergessenheit zu geraten. Dieser Wunsch ist tausendfach in Erfüllung gegangen, jedenfalls wenn man ins Internet schaut und insbesondere bei youtube recherchiert. Da gewinnt man den Eindruck, dass er heute – am 24. September steht sein 100. Geburtstag an – noch viel mehr Verehrer hat als zu Lebzeiten. Einfach unglaublich, was da von Fans aus aller Welt an Ton- und Bilddokumenten zusammengetragen wurde. Wohl kein Bariton der Vergangenheit hat eine solche Gemeinde, und von den Tenören wohl nur Mario del Monaco. Ettore Superstar!
Auch wenn die superlativischen Elogen von Opernfans – und besonders im Netz – oft ins Maßlose gehen und manchmal auch durchaus zweitklassige Sänger zu den größten aller Zeiten ausgerufen werden, so kann ich diese Begeisterung im Falle von Ettore Bastianini doch nachvollziehen, da ich selbst schon im zarten Knabenalter von ihr ergriffen war. Zu meinen ersten Opernplatten gehörten zwei LPs im 17-cm-Format, die ich immer und immer wieder abspielte: ein Recital mit Arien aus La forza del destino und Andrea Chenier und drei Ausschnitte aus Il Barbiere di Siviglia mit Giulietta Simionato und Alvinio Misciano. Vor allem Carlo Gérards Arie „Nemico della patria“ habe ich unmittelbar nach dem Stimmbruch oft mitgegrölt wie auch alle Einsätze des Grafen Luna in dem privat dilettantisch mitgeschnittenen Salzburger Trovatore von 1962. Aber auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, nehmen Aufnahmen mit Bastianini einen zentralen Platz in meiner Sammlung ein.
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Die Karriere: Den Rang eines „Jahrhundert-Baritons“ werden ihm Kenner und Liebhaber, die andere Vertreter seines Stimmfachs bevorzugen, kaum absprechen können. Angefangen hat er ganz unspektakulär in der Provinz – als Bassist. Am 24. September 1922 im toscanischen Siena geboren, debütierte Ettore Bastianini 1945 nach kurzem Gesangsstudium in seiner Heimatstadt als Colline in La Bohème am Stadttheater Ravenna. Fünf Jahre lang war er danach an kleinen und auch größeren italienischen Bühnen, so einige Spielzeiten am Teatro Regio in Parma, im Baßfach beschäftigt, sang Partien wie Conte Rodolfo in Bellinis La Sonnambula, Alvise in La Gioconda oder Zio Bonzo in Madama Butterfly. Während des Rollenstudiums am Padre Guardiano soll er bemerkt haben, dass er das falsche Fach sang – bei dem spielerischen Versuch nämlich, auch die Rollen des Don Carlo und sogar des Alvaro mitzusingen.
Dem Rat seiner damaligen Lehrerin folgend, legte er eine Berufspause ein und ließ sich zum Bariton umschulen. Am Silvesterabend 1951 gab er als Germont-père am Teatro Comunale von Bologna sein Debüt im neuen Stimmfach. Man kann sich heute kaum vorstellen, welche schwierige Konkurrenzsituation er in dieser Zeit vorfand: Veteranen wie Carlo Tagliabue, Afro Poli und Giovanni Inghilleri waren noch immer an ersten Bühnen erfolgreich, Enzo Mascherini, Paolo Silveri, Gino Bechi und Giuseppe Valdengo hatten den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht, Tito Gobbi und Giuseppe Taddei standen kurz davor und selbst Kollegen seines Alters wie Aldo Protti und Giangiacomo Guelfi waren ihm, dem Bariton-Newcomer, wenigstens um eine Nasenlänge voraus.
Es ist deshalb gar nicht verwunderlich, dass Bastianinis Karriere nicht an der Mailänder Scala, sondern beim durchaus renommierten Maggio Musicale in Florenz begann, und dass er sich zunächst nicht in seinem ureigenen italienischen Fach durchsetzte, sondern in Partien des russischen Repertoires. In einer Inszenierung der berühmten Tänzerin Tatiana Pavlova sang er dort 1952 Jeletzki in Tschaikowskys Pique Dame. Die junge Sena Jurinac war Lisa, Artur Rodzinski dirigierte. Im darauffolgenden Jahr war er am gleichen Ort Prinz Andrej in der Erstaufführung von Prokofjews Krieg und Frieden, die einer szenischen Uraufführung gleichkam. Franco Corelli war als Pierre Besuchow sein Partner. Und noch ein Jahr später übernahm er in Florenz die Titelrolle in Tschaikowskys Mazeppa neben Kollegen wie Boris Christoff und Magda Olivero.
Fast naheliegend, dass er das fällige Debüt an der Scala auch in einer russischen Partie absolvierte, nämlich als Eugen Onegin (neben Renata Tebaldi und Giuseppe di Stefano), und seine große internationale Karriere als italienischer Bariton von New York aus begann. Hier gab er im Mai 1953 als Germont-père seinen Einstand und erhielt nach seiner Arie „Die Provenza“, die er statt an den Bühnenpartner direkt ans Publikum gerichtet haben soll, anhaltenden stürmischen Applaus, der vom Dirigenten entschlossen abgebrochen werden mußte. In der Folgezeit entwickelte er sich trotz der Konkurrenz von Leonard Warren und Robert Merrill rasch zu einem New Yorker Publikumsliebling und trat in den kommenden 12 Jahren an der Met in 89 Vorstellungen auf. Bald erhielt er seine ersten Schallplattenverträge und wurde in Amerika wie in Europa ein viel beschäftigter Sänger. Einen vorläufigen Höhepunkt bedeutete 1958 sein Engagement zu den Salzburger Festspielen als Marquis Posa in der „Don Carlo“-Produktion von Gustaf Gründgens und Herbert von Karajan. Nur wenige Wochen nach der Premiere hatte er sein Debüt an der Wiener Staatsoper, die neben der Scala und der Met sein drittes Stammhaus wurde und wo er bis 1965 nicht weniger als 142 Vorstellungen sang.
Kein Zweifel, Bastianini hatte jetzt den ersehnten Gipfel erreicht, und er begann, seine Kräfte zu überfordern. Ein frühes Jet-Set-Opfer, pendelte er zwischen Mailand und New York, zwischen Chicago und Wien, zwischen Berlin und London hin und her. Wie ernstzunehmende Kritiker feststellten, ließen infolge dieser Belastungen nicht nur seine stimmlichen Leistungen nach, er verlor auch an gestalterischer Überzeugungskraft. Auf die Serie von Triumphen folgte ein jäher Sturz. Im April 1962 gab er an der Scala sein Hausdebüt als Rigoletto und wurde von der Galerie gnadenlos ausgepfiffen. Nach der Premiere gab er die Partie an den routinierten Aldo Protti ab. Nach diesem Debakel wurde von verschiedenen Seiten bereits das Ende seiner großen Karriere vorausgesagt, doch das war offensichtlich unbegründet, denn nur wenige Monate später zeigte er sich bei den Salzburger Festspielen als Luna in Karajans Trovatore-Inszenierung wieder ganz in der alten Hochform. Doch blieb ihm nur noch kurze Zeit, seine Karriere fortzusetzen. Als er sich im November 1965 als Marquis Posa vom Publikum der Metropolitan Opera verabschiedete, war er bereits von seiner tödlichen Krankheit gezeichnet. In den folgenden Monaten versuchte er seinen Kräften noch einige Bühnenauftritte abzutrotzen. Am 25. Januar 1967 starb er, erst 44 Jahre alt, in Sirmione am Gardasee.
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Künstlerische Eigenart: Dass Ettore Bastianini im historischen Rückblick wenn nicht als der größte, so doch als der prototypischste italienische Bariton seiner Generation erscheint, als ein Nachfolger von Sängern der „Goldenen Ära“ wie Titta Ruffo und Riccardo Stracciari, hängt zunächst einmal mit der außergewöhnlichen Materialqualität und dem unverwechselbaren Timbre seiner Stimme zusammen, deren dunkle Farbe ihre Herkunft aus dem Baßfach nicht verleugnete, die sich in der Mittellage frei verströmen konnte und in der Höhe die Projektionskraft eines Tenors hatte, dabei bruchlos im Wechsel der Register war. Eine Spur von dem „Diamantenregen“, den man Stracciaris Gesang nachrühmte, findet man auch in Bastianinis Vortrag. Der gleichmäßige ruhige Fluß in den weit ausgesponnenen Kantilenen bei Donizetti und Verdi war eine seiner großen Stärken, dabei hatte sein Gesang immer einen Seelenton, den man ähnlich ausgeprägt sonst nur noch bei seinem Tenorkollegen Giuseppe di Stefano findet.
Es ist in Nachrufen auf verstorbene Künstler üblich, sie als unersetzlich zu erklären, und in gewisser Weise stimmt das ja auch, denn jeder ist auf seine Art einzigartig. Im besonderen Falle von Ettore Bastianini hat es zwar einige gegeben, die seinen Platz einzunehmen versuchten, aber tatsächlich keinen echten Nachfolger. In der Gunst Karajans, der Schallplattenfirmen, aber auch des Publikums nahm Piero Cappuccilli diese Position ein, dem eine über mehr als drei Jahrzehnte währende Karriere vergönnt war – ein zweifellos imponierender Sänger, der aber bei allem stimmlichen Glanz immer etwas sachlich und unpersönlich wirkte und nicht über Bastianinis vokales Charisma verfügte. An emotionaler Intensität kam diesem der Grieche Kostas Paskalis, an dunkler Stimmpracht der Rumäne Nicolae Herlea wohl am nächsten.
Sein Nachruhm gründet sich vor allem auf eine Handvoll Partien, in denen er unvergleichlich war. Etwa Carlo Gérard in Giordanos Andrea Chenier, den keiner mit einer ähnlich verzehrenden Intensität zu gestalten wußte. Daneben waren es vier Verdi-Rollen, in denen er für spätere Generationen die Maßstäbe setzte: Graf Luna, Renato, Don Carlo di Vargas und Marquis Posa. Für diese Partien besaß er den weiten Legato-Atem, die warme Tonfülle in der Kantilene und die dramatische Attacke. Offenbar lagen ihm die geradlinigen Charaktere besonders, während er nie ein Meister feiner psychologischer Differenzierungen war wie Tito Gobbi. Hintergründige Rollendeutungen waren seine Sache nicht und so hat er einige der großen Verdi-Partien nur selten oder gar nicht gesungen. Iago beispielsweise nur ein einziges Mal (in Kairo), dessen Credo hatte allerdings einen festen Platz in seinem Konzert-Repertoire.
Er war auch kein „begnadeter“ Bühnendarsteller. Anders als Gobbi und der Erzkomödiant Giuseppe Taddei, die ihre Rollen mit einer überaus beredten Körpersprache und ausgefeiltem Mienenspiel gestalteten, zog er sich auf die Position des reinen Steh-Baritons zurück. Das ist in zwei kompletten Trovatore-Videos (einer TV-Version von 1957 und einem Mitschnitt aus Tokyo von 1963) ebenso zu konstatieren wie in der Verfilmung der legendären Forza del destino aus Neapel mit Renata Tebaldi und dem darstellerisch gewandten Franco Corelli oder einem amerikanischen Fernseh-Querschnitt der Traviata mit Beverly Sills. Anders als seine beiden großen Fachkollegen und Konkurrenten hat er auch nie komödiantische Rollen übernommen, ausgenommen Rossinis Figaro, mit dem er 1956 auch sein Debüt in der Arena von Verona absolvierte und den er mit etwas bärbeißigem Humor ausstattete.
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Das diskographische Erbe: Seine diskographische Hinterlassenschaft, etwa 15 komplette Studio-Produktionen und noch weit mehr vollständige Live-Mitschnitte, ist beeindruckend und gibt der posthumen Verehrung ausreichend Nahrung. Ich schmälere nicht das historische Verdienst der Decca-Aufnahmen aus den 50er Jahren, mit denen ich aufgewachsen bin und die in der überwiegenden Konstellation mit Partnern wie Mario del Monaco, Renata Tebaldi, Giulietta Simionato und Cesare Siepi eine Schallplatten-Ära prägten (u.a. La Bohème, La Gioconda), wenn ich den letztgenannten heute den Vorzug gebe. Vieles was nach dem Tod des Sängers auf dem sogenannten „grauen Markt“ erschienen ist, wurde später von großen Firmen wie Deutsche Grammophon, EMI und Orfeo technisch restauriert ganz offiziell veröffentlicht. Darunter befinden sich einige wirkliche Sternstunden der Oper, die in keiner Sammlung fehlen dürfen. Dazu zählen Don Carlo (1958) und Il Trovatore (1962) aus Salzburg unter Herbert von Karajan (Deutsche Grammophon), La Traviata (1955) und Poliuto (1960) aus der Mailänder Scala mit Maria Callas (EMI). Zwei Wiener Sternstunden, Andrea Chenier unter Lovro von Matacic und La forza del destino unter Dimitri Mitropoulos (beide 1960, Orfeo), konkurrieren mit den Studio-Aufnahmen bei Decca, und sind für diejenigen Stimmenfreunde von besonderem Interesse, die in diesen Opern lieber Corelli und di Stefano hören als del Monaco.
Zu den „Unverzichtbaren“ rechne ich aber auch Ernani (Florenz 1957) unter Mitropoulos und natürlich Adriana Lecouvreur aus Neapel (1959), wo Bastianini sich mit Magda Olivero, Giulietta Simionato und Franco Corelli zu einem unübertrefflichen Quartett verbindet. Bei Un ballo in maschera hat man die Qual der Wahl. Renato war seine absolute Glanzrolle. Kein anderer Bariton der Nachkriegszeit hat die Arie „Eri tu“, ein Prüfstein für jeden echten Verdi-Bariton, mit solcher Hingabe, solcher Tonfülle und solcher Imaginationskraft („O dolcezze perdute“) gesungen wie er. In meiner Sammlung befinden sich drei Aufnahmen aus der Mailänder Scala, die Studio-Aufnahme der DG und die vorangegangenen Mitschnitte mit Maria Callas und Antonietta Stella. Daneben der spätere Auftritt an der Covent Garden Opera mit Jon Vickers und Amy Shuard (eine interessante Kombination!) und schließlich – meine Favoritin – die Produktion aus Florenz (1957), da hier nicht nur Bastianini, sondern auch Anita Cerquetti als Amelia in ihren Arien in den siebenten Verdi-Himmel führen. Da muß man den penetranten Gianni Poggi (wie auch in der Studio-Aufnahme) in Kauf nehmen.
Erfreulicherweise sind auch die frühen Aufnahmen des Sängers, die ihn in einem erweiterten Repertoire präsentieren, unterdessen auf CD erschienen. Zunächst eine Aida von Remington (Naxos) und Il tabarro vom NDR. Dann die erwähnten drei russischen Opern aus Florenz, aber auch französische Opern, wobei besonders Athanael in Thais den Möglichkeiten Bastianinis sehr gut entspricht, Méphisto in Berlioz‘ La damnation de Faust vielleicht etwas weniger, aber da ist die Kombination mit der Marguérite Giulietta Simionatos sehr reizvoll. Valentin in Faust ist eine sichere Bank, auch Escamillo in der Arena-Carmen aus Verona mit den Partnern Corelli und Simionato, denn diese Rolle verlangt einen echten Bassbariton mit sicherer Höhe. Im italienischen Rand-Repertoire ist noch Leoncavallos La Bohème, die ich persönlich sehr mag, von einigem Interesse, vor allem wegen Bastianinis Rodolfo. Dass der auch ein fabelhafter und stimmkräftiger Scarpia sein konnte, habe ich erst jetzt bei youtube in einer Brüsseler Tosca von 1958 (Scala-Gastspiel mit Tebaldi und di Stefano) entdeckt.
Ein privater Sammler hat die Rundfunkübertragung von Bastianinis letztem Auftritt an der Metropolitan Opera (Don Carlo am 11. Dezember 1965) mitgeschnitten und ins Netz gestellt. Der todkranke Sänger zeigt sich da vokal in kaum merklich reduzierter Form, allenfalls bemerkt man, dass ihn das Singen anstrengt. Im gleichen Jahr hat er in Japan eine Platte aufgenommen, die ich bisher nicht kannte: „Ettore Bastianini sings Songs of Italy“, begleitet von einem Philharmonia Orchestra unter Hiroyuki Iwaki. Das Programm reicht von Di Capuas O sole mio über Cardillos Core n’grato bis zu Tostis Marechiare, La Serenata und L’ultima canzone – das ganze Repertoire also, das seit Carusos Tagen vor allem eine Domäne der italienischen Tenöre geworden ist. Dieses populäre Recital läßt noch einmal die Qualitäten dieses Ausnahme-Sängers erkennen, der sich mühelos von bassigen Tiefen bis zu glänzenden Tenorfermaten aufschwingt, und darf als ein würdiges Testament. Ekkehard Pluta