Mythische Damen

 

Von weither sei man angereist, berichtete Stendal, um dieses morceau de génie zu hören. Der französische Schriftsteller und Rossini-Biograf bezog sich bei seiner Schwärmerei, mit der er sogar Goethe ansteckte, der sich daraufhin von Zeller die Noten besorgen ließ, auf das Sextett aus Johann Simon (Giovanni Simone) Mayrs  ElenaUngewiss, ob er die zweiaktige Semiseria bei ihrer Uraufführung im Januar 1814 in Neapel am Teatro die Fiorentini erlebt hatte, wo sie unmittelbar auf Mayrs zwei Monate zuvor am San Carlo uraufgeführte Medea in Corinto folgte, oder wohl eher 1816 an der Mailänder Scala, wo Elena als Elena e Constantino gegeben wurde. Der 51jährige Mayr befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Gut 50 Opern hatte er größtenteils für Venedig und Mailand geliefert, zehn weitere sollten folgen, bis er sich Anfang der 1820er Jahre vom Opernleben zurückzog. Elena, die vom Siegelbewahrer von Mayrs Schaffen, Franz Hauk, im August 2018 in Neuburg an der Donau vorgestellt wurde (Naxos 2 CD 8.660462-63), ist insofern bemerkenswert, weil sich hinter der sich unter dem Namen Riccardo bei dem Bauern Carlo verdingenden Elena eine Schwester im Geist von Beethovens Leonore verbirgt. Andrea Leone Tottola, Hauslibrettist der neapolitanischen Theater, hatte sich Jean-Nicolas Bouillys Vorlage zu Méhuls 1803 in Paris uraufgeführten Opéra-comique Héléna bedient. Bouillys Héléna ist eine weitere Variation seiner Leonore (1798), deren Schicksal von Paër über Mayr bis zu Beethoven führt. Ausgehend von der gewichtigen Ouvertüre verbindet Mayr die sechzehn Musiknummern trotz der nicht unernsten Handlung durch einen lustspielhaften Ton, der entsprechend der Gepflogenheiten der Semiseria, also der weder rein komischen noch durchgehend ernsten Operngattung, über einen nicht unbedeutenden Choranteil verfügt und neben den Arien, einige Duette, Terzette, ein Quartett mit Chor – das fröhliche „Cantiam de‘ nostri cuori“ – das erwähnte Sextett (kurz vor Ende der Oper) und ein sehr umfangreiches Finale primo besitzt. Also eher à la Rossinis Gazza ladra als Meyerbeers vor vier Jahren in Martina Franca wiederentdeckte Margherita d’Anjou, bei der die komischen Elemente nur Einsträusel in einer an sich ernsten Handlung sind. Obwohl nur der von Niklas Mallmann mit leichtem Bass gesungene neapolitanische Bauer Carlo, den es mit seiner Tochter Anna und dem Hirten Urbino in die Provence verschlagen hat, eine reine Buffafigur ist, mit dem sich Teile nicht nur des neapolitanischen Publikums identifizierten („Quanno co la perucca“/ „Als ich mit der Perücke durch Neapel lief“), ist der durch die kunstvolle Instrumentation im Schatten der Wiener Klassik fein aufgebrochene Duktus nahezu durchgängig ein heiter hurtiger, wie er sich in der schelmischen Arie „Brutto uccello di rapina“ der Anna zeigt, der Anna-Doris Capitelli ein Gesicht gibt. Eintrübungen kommen Elena bzw. Riccardo zu, der Gattin des von einem bösen Usurpator fälschlicherweise des Mordes an seinem Vater, dem Herrscher von Arles, beschuldigten Herzogs Constantino, die in ihrer Duett-Romanze „Un Provenzale d’illustro stato“ besseren Zeiten nachhängt und dem Sohn Paolino die Vorgeschichte erzählt; den Sohn, eine Hosenrolle, hatte seine Eltern auf der Flucht vor Carlos Hütte ausgesetzt usw…..Die große Szene der Titelheldin folgt im zweiten Akt „Ah! non partir“; Julia Sophie Wagner singt sie mit geschmeidigem lyrischem Sopran, dem es für die tragische Situation allenfalls ein wenig an Gewicht fehlt. Den Gatten Constantino hat es schwerer getroffen, wie er mit vielen Klagefiguren in seiner Szene und Arie „Son solo … o miei sospiri! Ah! Se mirar potessi!“, der umfangreichsten Szene der Oper, unterstreicht, bevor er ohnmächtig wird; Der als Bassist bezeichnete Daniel Ochoa, der wohl eher ein Bariton ist, gefällt durch Koloraturlockerheit und einen gepflegten, ausdrucksreichen Vortrag. Mit Unterstützung des klugen Bauern Carlo und des von Markus Schäfer mit versiertem und charaktervollem Tenoreinsatzes gesungenen Edmondo, dessen Vater der Mörder war, widerfährt dem Paar Elena und Constantino, das – typisch für derartige pièces à sauvtage – gerade noch mal seiner am Ende des ersten Aktes geforderten Hinrichtung entgangen ist, Gerechtigkeit. Hauk und die Concerto de Bassus-Spieler sowie der Simon Mayr Chor musizieren mit überspringender Spielfreude. Der Tenor Fang Zhi als Gouverneur, Anna Feith als Ernesta, Mira Graczyk als Paolino tragen zu zweieinhalb kurzweiligen Stunden bei (Naxos  8.660462-63, 2 CD, mit Bookl2t und digitalem Libretto).

Die Diva Neapels bediente Mayr vier Jahre später mit einer szenischen Kantate, die eine Stunde lang deren sämtlichen singdramatischen Talente in strahlendstes Licht rücken sollte. 1811 war Isabella Colbran nach Neapel gekommen, wo sie bereits 1813 Mayrs Medea kreiert hatte, bevor sie als Uraufführungssängerin von acht Opern Rossinis zur Primadonna assoluta aufstieg. Nach einer dem Anlass gemäßen festlich, pompösen Ouvertüre entfaltet Mayr in 14 Nummern pflichtgemäß das Schicksal der von Theseus verlassenen Ariadne, die auf Naxos glücklicherweise auf Bacchus trifft. Das Libretto hatte ihm Tottolas Kollege Giovanni Schmidt geliefert. Die Diva musste sich nicht verausgaben. Allein bestreitet Arianna nur zwei Rezitative und eine Arie, dazu drei Rezitative und zwei Duette mit Bacco. In der bereits 2007 im Neuen Schloss in Ingolstadt entstandenen Aufnahme stand Franz Hauk, der mit dem Simon Mayr Ensemble die orchestralen Qualitäten Mayrs auf eminente Weise herausarbeitet, keine adäquate Interpretin (Cornelia Horak) zur Verfügung, die die dramatische Kraft und das Pathos der Rezitative vermitteln könnte. Als junger Gott machte Thomas Michael Allen eine bessere Figur. (Naxos 8.573065; Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Rolf Fath